Monika Mokre

Eine andere Welt statt neuer Normalität

Seit einem Jahr leben wir in einem Ausnahmezustand, der sich manchmal Lockdown, manchmal gelockerter Lockdown und manchmal – besonders bedrohlich – neue Normalität nennt. Laut Carl Schmitt „offenbart (der Ausnahmezustand) das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten. Hier sondert sich die Entscheidung von der Rechtsnorm, und (um es paradox zu formulieren) die Autorität beweist, dass sie, um Recht zu schaffen, nicht Recht zu haben braucht.“[1]

Immer deutlicher zeigt sich derzeit, dass politische Entscheidungen zu Zeiten der Pandemie nicht nur häufig den Boden der Rechtsstaatlichkeit verlassen, sondern auch nicht zu den Konsequenzen führen, die sie versprochen haben. Einerseits leidet die gesamte Bevölkerung zunehmend mehr unter den Covid-Maßnahmen – wenn auch in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlicher Form – andererseits gelingt es weder, die Covid-Zahlen in Griff zu bekommen noch eine Präventionsstrategie für die Zukunft zu entwickeln.

Wenn Machtfülle sich mit politischem Versagen paart, bleibt die Zuweisung von Schuld und Verantwortung an die Bevölkerung. Dies geschieht in unterschiedlichen und widersprüchlichen Formen. Entgegen dem neoliberalen Paradigma vom selbstbestimmten Subjekt, das etwas leistet und sich daher auch etwas leisten kann, soll im Sinne der gesamtgesellschaftlichen Solidarität auf individuelle Rechte verzichtet werden. Durchaus entsprechend dem neoliberalen Paradigma wird aber andererseits die Verantwortung für das individuelle Wohlbefinden eben diesem Subjekt zugewiesen – unter anderem mit dem Schlagwort der Resilienz, also der Fähigkeit, auf Herausforderungen und Veränderungen mit Verhaltensanpassung reagieren.

Dieses Schlagwort ist keinesfalls neu, sondern geistert seit Jahrzehnten durch diverse Forschungsdisziplinen wie auch populärwissenschaftliche Literatur und Selbsthilferatgeber. Während die Wissenschaften in erster Linie danach fragen, was Resilienz fördert oder reduziert, geht es in den Selbsthilferatgebern – wie der Name schon sagt – darum, wie ich mich selbst resilienter machen kann. Wie passe ich mich also an meine Umwelt an, um in ihr möglichst gut zu überleben?

In der neoliberalen Selbsthilfevariante ist Resilienz individuelle Eigenschaft und Verantwortung, die zu persönlicher Verhaltensänderung, nicht aber zu Veränderung des Kontexts führt. Resilienz in Covid-Zeiten bedeutet also wohl, mich in der Situation möglichst gut einzurichten und möglichst wenig darüber nachzudenken, wie es anderen mit dieser Situation geht und wie die Zukunft aussehen kann. Ich ertrage und die anderen müssen ertragen – das ist ihre Aufgabe, nicht meine.

In einer Erklärung zu ihrer Europareise im Sommer 2021 formulieren die mexikanischen Zapatistas eine Weltsicht, die dieser Aufforderung zu Egozentrik diametral entgegensteht: „Uns eint, dass wir uns den Schmerz der Welt zu eigen machen. […]  Das Hören und Sehen der Anderen erlaubt uns voranzuschreiten. Der Kampf für die Menschheit ist weltweit.“[2] Hier geht es um Solidarität, commons und radikale Veränderung der Umwelt. Nicht um die Rückkehr in die Normalität größerer individueller Freiheit und stets wachsender globaler Ungleichheit. Und auch nicht um die Anpassung an neue Zumutungen des neoliberalen Kapitalismus, die aus der Pandemie entwickelt werden. Sondern um die Möglichkeit und Notwendigkeit einer anderen Welt, einer Welt, die mit Problemen und Herausforderungen, wie etwa einer weltweiten Seuche, gemeinsam und solidarisch umgeht.

Andere Welten, Möglichkeitsräume, Formen des Imaginären entwerfen – diese Aufgabe wird traditionell und plausibel den Künsten zugeschrieben. Dies ist Teil ihrer ideologiekritischen und weltkonstruktiven Aufgabe – einer Aufgabe, die sich auch den Wissenschaften stellt. Es ist verständlich und sinnvoll, dass viele künstlerische Initiativen sich zur Zeit mit ihrem eigenen Überleben beschäftigen – die Bedingungen des eigenen Schaffens sind immer auch die Bedingungen für gesellschaftliche Relevanz. Doch ist es wohl an der Zeit, über die Frage des eigenen Überlebens, der Resilienz, hinauszugehen und wieder, immer wieder, danach zu fragen, in welcher Welt wir leben wollen, welche Welt wir als das Zuhause verstehen, nach dem wir uns in dem beschränkten und unbefriedigenden Zuhause unserer vier Wände sehnen.

Eine Geschichte der Zapatistas gibt hier eine mögliche Antwort: „Ich bin am Schlafen und träume. (…) Da sind Männer und Frauen und sehr andere AnderE. Das heißt, ich kenne sie nicht. Das heißt, sie sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Und haben viele sehr unterschiedliche Farben und Arten und Weisen. (…) Das heißt: Alles sehr merkwürdig. Das Seltsamste jedoch ist, und ich weiß nicht, warum und wie es dazu kommt: Ich weiß jedoch – ich bin zu Hause.“[3]


 

[1] Schmitt, Carl (1934). Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. München/ Leipzig 1934, 20.
[2] https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/das-virus-der-rebellion-geht-auf-reisen/?fbclid=IwAR3EvJB_1Iil-ln3WO6v4OSYPoi40s1-oxSI6BAzAeV8ZFL406Yd8UHEGDw
[3] https://www.graswurzel.net/gwr/2021/02/das-virus-der-rebellion-geht-auf-reisen/?fbclid=IwAR3EvJB_1Iil-ln3WO6v4OSYPoi40s1-oxSI6BAzAeV8ZFL406Yd8UHEGDw

 

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Monika Mokre
Foto: Stefan Csaky

Monika Mokre ist Politikwissenschaftlerin und Senior Researcher am Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Ihre Forschungsfelder sind Migration, Asyl, Gefängnis, Demokratie und politische Öffentlichkeit, Kulturpolitik und Gender Studies. Sie ist als politische Aktivistin in den Bereichen Migration, Asyl und Gefängnis tätig.