Zwischen rasantem Verfall und monumentaler Ewigkeit

Veranstaltungsbericht von Julia Grillmayr

Die Tagung und Ausstellung Nachhaltig vergänglich in Salzburg erörterte mit Fragen nach Dauerhaftigkeit und Schnelllebigkeit ein äußerst produktives Spannungsfeld, um verschiedene Ansätze der Kunst- und Kulturwissenschaft zusammenzubringen.

Weiß wie Schnee, schwarz wie Kohle, filigrane Netzwerke und wuchtiges Geschirr. Von 17. bis 19. November 2022 waren in der Stadtgalerie Mozartplatz in Salzburg künstlerische Arbeiten zu sehen, die mit ganz unterschiedlichen Materialien operierten.

Die in Tirol geborene Künstlerin und Alpinistin Elisabeth Eiter zeigte mit Gletscherfließen eine helle Freskomalerei auf Holz, die vorwiegend aus sogenanntem Gletscherschliff besteht. So wird jener Sand bezeichnet, der sich bildet, wenn Eismassen das Felsgestein zermahlen.

Elisabeth Eiter: Gletscherfließen, 2022, Fresko auf Holz, 122 × 170 cm. Foto: Christian Ecker
Elisabeth Eiter: Gletscherfließen, 2022, Fresko auf Holz, 122 × 170 cm. Foto: Christian Ecker

 

Elisabeth Eiter: Gletscherfließen, 2022. Fotografien, je 5 × 10 cm. Foto: Christian Ecker
Elisabeth Eiter: Gletscherfließen, 2022. Fotografien, je 5 × 10 cm. Foto: Christian Ecker

Sybille Neumeyer, die sich als „interdependente Künstlerin“ beschreibt, zeigte Scans von der Unterseite von Zimmerpflanzen; ästhetisch ansprechende, wenn auch beklemmende Bilder, denn das wuchernd-verworrene Wurzelwerk ist in die wohlbekannte Form des Blumentopfs gezwängt.

Sybille Neumeyer: Interior, 2012–2022, Scanographien; 6 Fineart Drucke; 30 × 40 cm. Foto: Christian Ecker
Sybille Neumeyer: Interior, 2012–2022, Scanographien; 6 Fineart Drucke; 30 × 40 cm. Foto: Christian Ecker

Mit Kohle auf Papier arbeitet Irini Athanassakis in Die Kurve. Wie die Künstlerin erklärte, spekuliert die Arbeit darüber, wie das Schrumpfen der menschlichen Bevölkerung auf der Erde – das stellt die gezeichnete Kurve dar – als „kollektive Performance“ möglich werden könnte.

Irini Athanassakis: Die Kurve. Eine kollektive Performance, 2022, Kohle auf Papier, 56 × 76 cm. Foto: Christian Ecker
Irini Athanassakis: Die Kurve. Eine kollektive Performance, 2022, Kohle auf Papier, 56 × 76 cm. Foto: Christian Ecker

Das Künstlerinnenkollektiv yphi lud zum Riechen ein: arôme entropique / ornaments of occupation ist eine Parfumkreation aus Flechten, die die Künstlerinnen an bestimmten Orten mit sozio-politischer Bedeutung sammelten.

ὑφή: a r ô m e e n t r o p i q u e / ornaments of occupation, 2022, Parfumkreation, Stein-Flakon, Text auf Verpackung. Foto: Christian Ecker
ὑφή: a r ô m e e n t r o p i q u e / ornaments of occupation, 2022, Parfumkreation, Stein-Flakon, Text auf Verpackung. Foto: Christian Ecker

Ein weiterer Sinn, nämlich der Geschmackssinn, wurde durch die Arbeit von Koch und Künstler Markus Gumpinger herausgefordert. Post-Dinner, 2022, Gipsschalen mit Speiseresten wurde erst durch die Besucher*innen kreiert, die eingeladen waren, eine Zwiebel-Brot-Ei-Komposition aus dickwandigen, noch trocknenden und somit selbstwärmenden Gipsschalen zu essen.

Markus Gumpinger: Post-Dinner, 2022, Gipsschalen mit Speiseresten. Foto: Christian Ecker
Markus Gumpinger: Post-Dinner, 2022, Gipsschalen mit Speiseresten. Foto: Christian Ecker

Den roten Faden der Schau bildete die Auseinandersetzung mit Flüchtigkeit und Dauer, mit Transformation und Fixiertheit und mit dem komplexen und selbst wandelbaren Verhältnis zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, wobei nahe am jeweiligen Material, seinen Eigenschaften und seiner spezifischen Ästhetik gearbeitet wurde. Diese Aspekte und Herangehensweisen waren auch für die Tagung zentral, die mit dieser Ausstellungseröffnung begann: Nachhaltig vergänglich. Zur Materialität des Verfalls war eine Veranstaltung des Programmbereichs Figurationen des Übergangs der interuniversitären Einrichtung Wissenschaft und Kunst (Universität Salzburg/Universität Mozarteum) in Salzburg in Kooperation mit der Kunstuniversität Linz und wurde von Yorick Berta und Jasmin Mersmann von der Kunstuniversität Linz sowie Romana Sammern von der Universität Salzburg konzipiert und organisiert.[1]

Die künstlerischen, kulturwissenschaftlichen und historischen Perspektiven, die in diesen drei Tagen in Dialog gebracht wurden, bezeugten die „Polyvalenz des Begriffs Nachhaltigkeit“, wie die Organisator*innen eingangs erläuterten: Was wir als nachhaltig verstehen, kann ganz unterschiedliche Rhythmen und Zeitlichkeiten haben. Während nachhaltige Geräte besonders langlebig sind und sich immer wieder reparieren lassen, lösen sich nachhaltige Verpackungen möglichst schnell und spurlos auf. Im Fall von Gebäuden und Architekturen kann, je nach Kontext, sowohl ein rasches rückstandloses Vergehen als auch ein ‚beständiges für-die-Ewigkeit-gebaut-Sein‘ nachhaltig sein. Die Frage, wie dauerhaft oder vergänglich Nachhaltiges ist, stellte sich als sehr produktive Ausgangsfrage heraus.

Spurensuchen

Wie die Bildende Kunst nach den vielen Aspekten der Vergänglichkeit befragt werden kann, zeigte gleich der erste Beitrag von Karin Harrasser, Professorin für Kulturwissenschaft an der Kunstuniversität Linz und Kodirektorin des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK). In ihrem Vortrag Verletzlich ohne Opfer zu seinfragte sie anhand einer genauen Betrachtung von Tizians Häutung des Marsyas (1570/1576) nach den „politischen Tugenden des Unvermögens“.

Tizian: Häutung des Marsyas, 1570/1576. Arcidiecézní muzeum Kroměříž, Kroměříž. Foto: Wikipedia Commons
Tizian: Häutung des Marsyas, 1570/1576. Arcidiecézní muzeum Kroměříž, Kroměříž. Foto: Wikipedia Commons

Die Komposition des Gemäldes zeige unterschiedliche Körper und Existenzweisen, ohne dass diese in eine Hierarchie gebracht würden: menschlich und nicht-menschlich, sinnlich und denkend, organisch und anorganisch. Gleichzeitig wird die Kunst der Berührung zur Zerstörung eines dieser Körper; der Satyr Marsyas wird gehäutet. Harrasser warf anhand dieser Betrachtung die hochaktuelle politische Frage auf, wie Verletzlichkeit und physische Vergänglichkeit zur Grundlage einer solidarischen Politik werden. „Wir sind planetarisch auf Tuchfühlung, es gibt eine global geteilte Verletzlichkeit“, betonte Harrasser. Die Covid-19-Pandemie sei dafür nur ein besonders plakatives Beispiel unter vielen. Allerdings sei diese Vulnerabilität ungleich verteilt. Mit der Selbst- und Fremdzuschreibung von Verletzbarkeit müsse sorgsam umgegangen werden, damit man das kulturell tief eingekerbte Muster des Opferdiskurses ausnavigieren und zu einem Verständnis von Vulnerabilität als Solidarität gelangen könne.[2]

Auf eine ebenso kleinteilige Spurensuche begab sich die Kunst- und Wissenschaftshistorikerin Vera Wolff, die derzeit Senior Research Fellow am documenta Institut in Kassel ist. Auf der documenta, genauer gesagt, in einer der Buchhandlungen in Kassel, startete diese Spurensuche. Wolff fand hier die Bücher Wabi-Sabi for Artists, Designers, Poets and philosophers (1994) und Wabi-Sabi – Further Thoughts(2015) von Leonard Koren. Koren fasst unter dem Begriff des Wabi-Sabi eine bestimmte ästhetische Tugend, die er mit der japanischen Kultur und Kunst in Verbindung bringt: “Wabi-sabi is a beauty of things imperfect, impermanent, and incomplete.”[3] Dieses Feiern von Unvollkommenheit und Demut stellte Wolff anhand von ausgewählten Beispielen aus der japanischen Kunst des 20. Jahrhunderts heraus. So sind etwa einige von Saburo Murakamis Gemälde dadurch charakterisiert, dass sie sich mit der Zeit auflösen, was Restaurator*innen vor eine unmögliche Aufgabe stellt: Ist das Abbröckeln der Farbe als „Krankheit des Gemäldes“ zu verstehen, wie es manchmal genannt wurde, oder als zentraler Bestandteil des Kunstwerks?

Wabi-Sabi kann auch mit ökologischen Aktivismen in Verbindung gesetzt werden. So sei das Arts and Crafts movement der USA Anfang des 20. Jahrhunderts stark von japanischer Kunst inspiriert gewesen. Man experimentierte mit neuen Materialien, die sich reparieren und auch von Laien bearbeiten ließen. Wolff strich allerdings auch hervor, dass man beachten müsse, wie und zu welchem Zweck diese „Ideale des Ostens“ in einen westlichen Gebrauch übersetzt wurden und dass man im Fall von Japan eine nationale Zuschreibung solcher Werte akzeptiert, die sonst höchst kritisch aufgenommen würde. Es handelt sich auch immer ein stückweit um ein Konsumierbar-Machen dieser Werte, wie auch das letzte Fundstück in Vera Wolffs Spurensuche zeigte: In einem Bibliotheks-Exemplar von Karen Barads Agentieller Realismus war eine schillernde Visitenkarte zu finden: „Wabi-Sabi. Institut de Beauté“.

Haushalten

Der Begriff der Nachhaltigkeit kommt aus der Forstwirtschaft und beschreibt das einfache und wirksame Prinzip, nicht mehr Bäume zu fällen als im gleichen Zeitraum nachwachsen – bereits hier spielen also Zeit und Geschwindigkeit eine entscheidende Rolle. Im Oikos muss man haushalten. Vom altgriechischen Begriff für die Hausgemeinschaft hergeleitet, kennen sowohl die Ökonomie als auch die Ökologie dieses Prinzip. Wenn wir heute davon sprechen, dass etwas nachhaltig sei, haben wir vor allem die Umweltverträglichkeit im Blick. Wenn man die historische Entwicklung der Materialien, ihrer Nutzung und ihrer Wege ansieht – und vor allem berücksichtigt, wie der Mensch beziehungsweise bestimmte Menschen diese in den letzten 300 Jahren beeinflussten –, wird erneut das komplexe Verhältnis zwischen Dauer und Vergänglichkeit deutlich.

Der an der Universität Salzburg emeritierte Wirtschafts- und Sozialhistoriker Reinhold Reith zeigte anhand von beeindruckenden Beispielen und Zahlen, wie die Menschen in Europa in kürzester Zeit lernten, Dinge wegzuwerfen, anstatt sie wiederzuverwenden oder zu reparieren. Ab den 1970er-Jahren wurde die Abgeschlossenheit des Erdsystems erkannt, Konzepte wie das Spaceship Earth, Diagnosen wie Die Grenzen des Wachstums und Praktiken wie Recycling wurden massentauglich. Wie Reith zeigte, gab es allerdings noch bis in die 1950er-Jahre spezielle Reparatur-Handwerker, die von Hof zu Hof gingen, um allerlei Alltagsgegenstände in Stand zu halten. „Menschen haben Strategien entwickelt, um mit knappen Ressourcen umzugehen“, erklärte Reith und gab zu bedenken, dass auch wir heute angesichts der multiplen Umweltkrisen eine Knappheitsgesellschaft sind beziehungsweise als eine solche leben sollten.[4]

Auch der Vortrag Greta on Ice – Vergänglichkeit, Materialität und Aktivismus in sozialen und künstlerischen Figurationen der Klimadebatte ging auf die aktuelle Lage und ein potenzielles Umlernen ein. Anne Hemkendreis, die den Beitrag mit dem Kultursoziologen Tobias Schlechtriemen vorbereitete, ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsprojektes Helden – Heroisierungen – Heroismen an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Held*innenverehrung in der Klimadebatte stellend, sprach sie über eine Eisskulptur von Alissa Khan-Whelan, Chris Godfrey und CJ Brown am Trafalgar Square – eine langsam vor sich hinschmelzende Figur Greta Thunbergs – sowie eine Performance des Kollektivs „Legs on the Wall“, die im Hafen von Sydney aufgeführt wurde.[5] Hier schwebte ein tonnenschwerer Eisbrocken, mit massiven Stahlseilen gehalten, über dem Wasser und wurde zur Bühne für gewagte Luftakrobatik. Hemkendreis zeigte, wie die Vergänglichkeit des Eises, das nicht aufzuhaltende Schmelzen, zu einem starken Symbol für Klimaschutz werden kann. Gleichzeitig müsse man auf der Hut sein, mit diesen Bildern nicht ein altes koloniales Schauspiel zu reinszenieren, betonte Hemkendreis: Europäischen Helden, die das „ewige Eis“ als „leere Bühne“, als „Bewährungsprobe“ und als zu „bezwingende, unbewohnte Natur“ verstanden, waren ein Motiv und Motor des Kolonialismus – und der kann heute eindeutig als eine der entscheidenden Ursachen ausgemacht werden für die diversen Krisen, denen wir heute begegnen. Aber auch dieses „wir“ muss hinterfragt werden, schließlich schmilzt nicht allen Menschen gleichermaßen der Boden unter den Füßen weg. Wiederholt wurde im Zuge der Tagung festgestellt, dass Verletzlichkeit global geteilt wird, aber ungleich verteilt ist.

Die „Anderen“ im Oikos

Ein Material, das Zerfall und Akkumulation, zu schnelle Verwertung und Tiefenzeit in unheimliche Schlaufen bringt, stand im Zentrum von Benjamin Steiningers Beitrag. Der Kultur- und Medienwissenschaftler sprach über die verschiedenen Zeitlichkeiten der sogenannten Petro-Moderne.[6] In dieser Epoche stehen sehr lange und sehr kurze Zeitlichkeiten nebeneinander, was Steininger etwa in Bezug auf das Erdöl-Nebenprodukt Plastik ausführte: Während wir oft von der Dauerhaftigkeit des Mikroplastik hören, leben wir auch in einer Zeit rasanter Produktion, in der Erdschätze entwertet werden. „Die Petromoderne ist die radikalste Feuer-Epoche“, sagte Steininger, „jetzt müssen wir radikal aus dieser radikalsten Epoche heraus“. Wie kann das gelingen? Steininger schlug vor, „petrochemische Melancholie“ dafür in Betracht zu ziehen.[7] So werde an so manchen melancholisch anmutenden Praktiken bereits deutlich, dass man vom Verbrennungsmotor Abschied nimmt. Abschließend wies Steininger aber auf die mysteriöse Petroleumfliege hin. Die Helaeomyia petrolei ist die einzig bekannte Insektenart, die sich im – für alle anderen giftigen – Rohöl entwickelt und ist damit ein interessantes Studienobjekt für Wissenschafter*innen, die sich damit beschäftigen, anthropogene Giftstoffe aus der Umwelt zu entfernen.

Einblick in die Lebenswelten von ebenso merkwürdigen Wesen gab Maren Mayer-Schwieger, die in der Abteilung Medientheorie der Kunstuniversität Linz arbeitet, an einem Dissertationsprojekt Der Andere (im) Oikos. Eine Genealogie ökologischen Wissens. Bei Nachhaltig vergänglich sprach Mayer-Schwieger über den Vampyrotheutis infernalis, den Vampirtintenfisch, der nicht zuletzt durch Vilém Flussers gleichnamige Schrift in den Kulturwissenschaften Berühmtheit erlangte. Mayer-Schwieger präsentierte die Wissensgeschichte rund um diese Tintenfisch-Art aber noch einmal aus einer ganz anderen und eigenen Richtung. Das mythenumwobene Tier nahm sie als Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie die Tiefseeforschung an der Jahrhundertwende die biologische Idee von Lebendigkeit neu verhandelte. Zersetzung rückt hier in den Vordergrund: „Die Tiere platzen und zerrinnen“, sagte Mayer-Schwieger über die ersten Versuche, Tiefseelebewesen zu untersuchen und haltbar zu machen. Mit Blick auf gewisse Sammlungspraktiken und auf die Entdeckung von Formalin wurde die aufkommende „Meeresbiologie als Schauplatz nachhaltiger Vergänglichkeit“ erkennbar, wobei das Anerkennen und Erfassen von Wandelbarkeit und Unbestimmbarkeit eine zentrale Rolle einnimmt. „Es gibt eine ständige De- und Reformierung des Vampyrotheutis Infernalis“, erklärte Mayer-Schwieger: Hat er acht oder zehn Arme? Um welche Lebensform handelt es sich überhaupt? Welche Farbe hat er? Seine Verewigung in Geschichten und seine gleichzeitige Zersetzung, sobald er eingesammelt wird, mache den Vampirtintenfisch zu einem „Schwellenwesen“, an dem Wissensprozesse und notwendige Unschärfen besonders gut ablesbar werden.

Ewig Flüchtiges 

Manfred Kern, Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität Salzburg, ging einer „Paradoxie von Vergänglichkeit und Überdauerung“ nach, die er in der mittelalterlichen Dichtung ausmachte. Die Beispiele reichten von Johannes von Tepls Der Ackermann aus Böhmen (um 1400) bis zur Figur der ‚Frau Welt‘ am Wormser Dom, die „vorne schön, hinten wurm- und tier-zerfressen“ dargestellt ist. Kern arbeitete heraus, dass die mittelalterliche „Poetik der Permanenz gerade an der Fragilität von Sprache, von Stimme und Schrift ansetzt“. So zeigt sich an der Architektur des Grabes der Camilla, das in Heinrich von Veldekes Eneasroman (1170/1184) geschildert wird, dass das Unsterblich-Machen der Held*innen hier ausgerechnet mit Vanitas-Motiven verschränkt wird. Kern ging es dabei um die symbolische wie auch materielle Dimension: „Dass sich Reststoffe akkumulativ verhalten, wussten schon die Knochen in den Beinhäusern zu sagen“, so Kern und zitierte die Inschrift der Capela dos Ossos, der Knochenkapelle im portugiesischen Évora: „Wir Knochen, die wir hier sind, warten auf die Euren“ (Nós ossos que aqui estamos pelos vossos esperamos).

In die Gegenwart holte uns Mareike Herbstreit, Kunsthistorikerin an der Universität Salzburg, mit der Frage zurück: … oder kann das weg? Wie ist mit den Materialien umzugehen, die von einer Performance übrigbleiben? Sind es „Aktionsrelikte“ oder eigene Kunstwerke? Sind sie ausstellbar und handelbar? Um diesen Fragen nachzugehen, untersuchte Herbstreit das Nachleben der Performance Balkan Baroque von Marina Abramović, die 1997 bei der Biennale in Venedig aufgeführt wurde. Sie bestand darin, dass die Künstlerin auf einem Haufen noch blutiger Rinderknochen saß und diese ‚putzte‘, während sie serbische Volkslieder sang. Die Arbeit konnte als Anklage an die Kunstwelt verstanden werden, die sich nur für sich selbst interessiert und jedes Außen – wie etwa den Jugoslawienkrieg – ausklammerte, erklärte Herbstreit, die im Weiteren aber vor allem interessierte, was nach der Performance, die nur in der Eröffnungswoche der Biennale stattfand, zu sehen war: Haben die Besucher*innen, die nur noch den Knochenhaufen und beigestellte Videoarbeiten sehen konnten, eine unvollständige Arbeit gesehen? „Ich glaube, dass die Absenz der Künstlerin die grundsätzliche Vergänglichkeit von Performance thematisierte – genauso wie diesen ‚Verlust‘ der Heimat –, aber gleichzeitig keine ‚Unvollständigkeit‘“, erklärte Herbstreit. Der Raum sei als eine Verfalls- oder Übergangssituation zu deuten gewesen; stickig, heiß und unangenehm, ein Unort. Zudem sei der Gestank des verwesenden Fleisches immer unerträglicher geworden. „Es gab also ein körperliches Erleben, das sich nicht auf die Performance beschränkte. Die Knochen waren keine Erweiterung der Aktion, sondern bestätigten die Vergänglichkeit und betonten die Abwesenheit der Künstlerin, die ja durch das ‚Reinigen‘ in der Aktion der Geruchsentwicklung scheinbar entgegenwirkt“, erklärte Herbstreit. Als umso irritierender empfand die Kunsthistorikerin daher, wie das Museum of Modern Art in New York die Performance im Rahmen der Abramović-Ausstellung The Artist is present (2010) zeigte. Auch hier war der Haufen Rinderknochen zu sehen – und man legte Wert darauf, dass es sich um dieselben Knochen handelte – allerdings wurden sie aufwendig chemisch gereinigt und geruchslos. Sie würden so zu einem klar abgrenzbaren Kunstwerk- „Damit, würde ich meinen, war Balkan Baroque endgültig vergangen“, schloss Herbstreit. Denn die Performancekunst sei genau mit dem Anspruch angetreten, diese klaren Abgrenzungen zu verkomplizieren.

Ein Kunstwerk, das schon allein wegen seiner Dimension eine große Herausforderung an die Restaurierung stellt, stand auch im Zentrum der Keynote von Monika Wagner mit dem Titel Verfall des Ewigen und Verewigung des Verfalls. Die emeritierte Kunsthistorikerin und Material-Expertin sprach über Alberto Burris Landschaftskunstwerk Cretto im italienischen Ort.[8]

Gabriel Valentini: Ansicht von Alberto Burris Cretto, 2009. Foto: Wikipedia Commons/Boobax
Gabriel Valentini: Ansicht von Alberto Burris Cretto, 2009. Foto: Wikipedia Commons/Boobax

Cretto hat eine unglaubliche Geschichte: Im Jahr 1968 wurde die sizilianische Kleinstadt Gibellina von einem Erdbeben fast völlig zerstört und dann einige Kilometer weiter als ‚Gibellina Nuova‘ wieder aufgebaut. Viele zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler wurden eingeladen, um den neuen Ort attraktiver zu machen – darunter auch Alberto Burri. Dieser nahm sich allerding des in Trümmern liegenden ‚Gibellina Vecchia‘ an. Er betonierte den Kern des zerstörten Ortes Stück für Stück ein, um einen kollektiven Erinnerungsort zu schaffen: ein flaches, sich weit erstreckendes, betretbares Monument. „Das war die Hochzeit der Debatten rund um Erinnerungskultur“, erklärte Wagner.

Heute blicken wir unweigerlich auch mit einer ökologischen Perspektive auf Cretto. Beton genießt keinen guten Ruf und auch das Einzementieren von den Resten einer Stadt wird in einer Zeit, wo wir zumindest versuchen sollten, möglichst wenig zu hinterlassen, unterschiedlich bewertet, erklärte Wagner. Das Erleben des Werkes beschrieb sie wie folgt: „Das ehemalige Gibellina scheint stillgestellt, der Beton macht den Jahreszeitenwechsel nicht mit, es erscheint ein Leichentuch über dem Ort. Aber Beton bleibt beweglich.“ Und so wuchsen die Risse in Burris Beton-Blöcken, immer mehr Pflanzen siedelten sich an. „Es ist wahrscheinlich, dass in diesen Beton viel Recycling-Material eingeflossen ist, wodurch er auch leichter zerfällt.“ Auch hier stellen sich den Menschen, die die Aufgabe übernommen haben, Burris Cretto zu bewahren, komplizierte Fragen: Erhält man das Kunstwerk, indem man den Beton erneuert oder indem man ihn verfallen lässt? Im Jahr 2015 wurde eine Entscheidung getroffen: Die wildwachsenden Pflanzen wurden ausgerissen, die Fugen gekittet und dem Beton ein strahlend weißer Anstrich verpasst. Das stehe wohl im Gegensatz zur Intention des Werkes, so Monika Wagner. Vielmehr sollte Cretto als „Archäologie der Zukunft“ verstanden werden; ein Werk, das durch seine Vergänglichkeit auch das Vergehen von Kulturen und ihr Verhältnis zur Naturgeschichte thematisiert.

Einen Bogen zurück in die mit der Tagung assoziierte Ausstellung erlaubte der Artist Talk mit Sybille Neumeyer, der die Veranstaltung abschloss: Wetterstimmen, oder: Museale Sammlungen wässern. Neumeyer sprach ausgehend von der Frage: Wie können sich Museen in die Vermittlung von ökologischen Themen wie dem Klimawandel einbringen, wenn es sich gleichzeitig um Räume handelt, die ihr Klima extrem regulieren? Die konstante Temperatur und Luftfeuchtigkeit richtet sich nach den Anforderungen der Materialerhaltung. „Damit wird auch eine spezifische Form der Vergangenheit produziert“, erklärte Neumeyer: „Materielles Werden wird überschrieben von einer kulturellen klima-losen, erd-losen, zeitlosen Seinsweise.“ So erscheinen uns Dinge in ethnologischen Sammlungen oftmals als „Objekte von Kulturen, die nicht mehr sind.“ Inspiriert von Astrida Neimanis’ „Hydrofeminismus“ fragte Neumeyer, wie man Objekten in Sammlungen anders begegnen kann: Welche ökologischen und hydrologischen Erinnerungen schlummern in diesen Museen, die uns an andere Ufer führen und uns Wege zeigen könnten, besser auf dem Planeten zu leben?[9] Die Künstlerin schlug verschiedene Strategien vor, um die Trennung zwischen einer sinnlichen und einer intellektuellen Begegnung mit diesen Objekten zu relativieren.

In einem künstlerischen Forschungsprojekt befasst sie sich mit Keramik-Behältern der Moche-Kultur, die sich bis zum 8. Jahrhundert an den Küsten des heutigen Peru entwickelte. Diese Keramiken können, mit Wasser gefüllt, zum Pfeifen gebracht werden. „In der Sammlung werden die Gefäße außerhalb dieses lebendigen Kontexts gezeigt“, sagte Neumeyer, die in Absprache mit Kurator*innen daran arbeitet, die Gefäße wieder „mit Wasser zu vereinen“ und sie als Instrumente zu erfahren. Das steht auch in Zusammenhang mit einer gewissen Dekolonialisierung von musealen Sammlungen. Es gehe darum, die vermeintliche Kontrolle wieder ein Stück weit abzugeben. Sybille Neumeyer schloss mit den Fragen: „Können wir mithilfe von Wasserströmen Museen als durchlässige Körper denken, die mit anderen Körpern in Verbindung stehen, anstatt als abgeschlossene Dinge? Was passiert, wenn wir unsere Kontrolle absichtlich umkehren und die Jahreszeiten wieder in die Museen einladen?“ Die allgemeinere Conclusio der Künstlerin deckte sich mit einigen Positionen der Tagung und machte das vielschichtige In-Bewegung-Bringen der Konzepte von Dauer und Verfall deutlich: Eine gewisse ‚Verwitterung‘ von westlichem Wissen, das von sich behauptet, global und universal zu sein, sei dringend notwendig.

Anmerkungen:

[1] Eine kurze journalistischer Übersicht über die Ausstellung und Tagung wurde von der Autorin in der österreichischen Tageszeitung Der Standard veröffentlicht. Julia Grillmayr: „Künstlerische Forschung: Die Widersprüche von Nachhaltigkeit und Zerfall“, Der Standard – ForschungsSpezial, 4.12.2022, https://www.derstandard.at/consent/tcf/story/2000141338454/kuenstlerische-forschung-die-widersprueche-von-nachhaltigkeit-und-zerfall (zuletzt aufgerufen 02.01.2023).

[2] Karin Harrasser beschäftigt sich in zahlreichen Arbeiten und Projekten mit Themen rund um Verletzlichkeit. Siehe etwa: Karin Harrasser: Auf Tuchfühlung. Eine Wissensgeschichte des Tastsinns, Frankfurt a. M. 2017 oder die von ihr initiierte Online-Plattform „Stay in Touch“: http://stay-in-touch.org/ (letzter Zugriff 02.01.2023).

[3] So schreibt Koren über seine Publikation. Cf. Leonard Koren: Wabi-Sabi: for Artists, Designers, Poets & Philosophers http://www.leonardkoren.com (letzter Zugriff 02.01.2023).

[4] Siehe dazu auch: Reinhold Reith: „Was war vor der Wegwerfgesellschaft?“, in: Kultur & Technik. Zeitschrift des Deutschen Museums 38 (2014), S. 12–18.

[5] Siehe Melissa Locker: „‚#GretaIceberg.‘ Here‘s the Story Behind the Ice Statue of Greta Thunberg Swiftly Melting Today“, in: Time, 2.10.2019, https://time.com/5691002/greta-thunberg-statue/ und die Webseite zum Stück von „Legs on the Wall“ https://www.legsonthewall.com.au/thaw (letzter Zugriff 02.01.2023).

[6] Siehe auch: Benjamin Steininger und Alexander Klose: Erdöl. Ein Atlas der Petromoderne, Berlin 2020.

[7] Er bezog sich dabei u.a. auf die Ausführungen von Stephanie LeMenager: Living Oil. Petroleum Culture in the American Century, Oxford 2014.

[8] Siehe Monika Wagner: Das Material der Kunst – eine andere Geschichte der Moderne, München 2002; sowie dies., Dietmar Rübel und Sebastian Hackenschmidt: Lexikon des künstlerischen Materials. Werkstoffe der modernen Kunst von Abfall bis Zinn, München 2002.

[9] Siehe Astrida Neimanis: Bodies of Water, London/NewYork: Bloomsbury, 2017

 

Editorial Peer Review
Rechte: CC-BY 4.0

Empfohlene Zitierweise: Julia Grillmayr: „Zwischen rasantem Verfall und monumentaler Ewigkeit“, in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2023, S. 1–10. DOI: 10.25598/transitionen-2023-2 <https://transition.hypotheses.org/1205>