Welches Geräusch macht dein Gehen?

Literarisches Postskriptum von Anna Maria Stadler

 

Spürst du, wie es die Luft von draußen mit jedem Öffnen der Türe hereinträgt?

(Geräusch der zufallenden Türe)

Fühlt sich dein Stiegenhaus auch manchmal wie ein enger Schluf an, an manchen Tagen zu schmal für ein Durchkommen?

Komm, geh hinaus.

(Schritte)

Ich weiß nie, in welche Richtung ich losgehen soll.

Schau mal, es sind nur mehr wenige unterwegs. Weil es nur wenige sind, fällt jeder einzelne mehr auf. Merkst du, wie die Gesichter derjenigen, die dir in der Straße entgegenkommen, gezeichnet sind von Ungelegenheiten? Kleine Verspätungen, ein Fahrrad, das im Weg steht, eine unauffindbare Adresse. Unzufriedenheiten, eine leichte Gereiztheit, eingeschrieben in die Stirnhaut.

Komm, geh die Straße entlang, in die Richtung, in die du seltener gehst.

(Schritte, Umgebungsgeräusche)

Die Abende werden wieder kürzer, es wird bald dunkel werden. Siehst du die Lampen dort oben in den Fenstern stehen? Sie werden dort die ganze Nacht brennen, menschenleere Wohnungen erleuchten, sodass die durch die Straßen Gehenden nicht vermuten, dass sie allein hier sind.

Um diese Zeit kommen nur wenige aus den Türen der Häuser heraus, aber einige verschwinden in ihnen.

Schau dich um, warst du schon oft hier? Das Material, aus dem die Gebäude hier sind, sieht aus nach festem Stein. Als ließe er sich nur langsam abtragen, so langsam, dass es scheint, er sei gänzlich unbeweglich. Siehst du die Bushaltestelle dort vorne? Nach der Schule sind wir früher manchmal mit den Bussen durch uns unbekannte Stadtteile gefahren, bis zur Endstation und zurück. Steig in den Bus.

(Quietschen der Busreifen, Geräusch der sich öffnenden Türen)

Setz dich in die hinterste Reihe.

Vorhin hat mir eine Freundin erzählt, wie sie ihre Mutter vor zwei Tagen zu einem Busbahnhof begleitet hat, und diese gestern von ihrer Tante an einem anderen Busbahnhof abgeholt werden hätte sollen, aber wie ihre Mutter nicht aus dem Bus gestiegen ist. Ob die Mutter in dem Bus sitzen geblieben ist, fragte meine Freundin ihre Tante. Nein, nein, sie ist gar nicht in dem Bus gewesen. Aber, sie habe die Mutter in diesen Bus steigen sehen. Wenn ich es dir sage, sie ist nicht aus dem Bus gestiegen, beharrte die Tante. Sie habe am Busbahnhof gewartet, habe allen Ankommenden ins Gesicht gesehen. Die Mutter war nicht unter ihnen.

Komm, steig an der nächsten Haltestelle aus.

(Schritte auf der Stiege)

Siehst du, wie hoch die Zäune in dieser Nachbarschaft sind? Man kann kaum in die Gärten sehen. Gärten in der Größe, dass zwei weitere Häuser darin Platz hätten. Stell dir die Fläche eines Freibades vor, das sich aus den Wassermassen dieser Vorgartenpools füllen lassen würde.

Siehst du die Scherben in verschiedenen Grüntönen in den Putz auf der Mauer so angedrückt, dass man sich im Versuch des Überwindens die Hände aufschlitzen müsste? Und dort vorne, die Noppen an den betonierten Würfeln, die Gitter auf den Stufen? Wie die Formen hier ungastlich jenen gegenüber werden, die eine ruhige Fläche zum Liegen oder Anlehnen benötigen. So wie an den Dachkanten dort oben schmale Eisenstangen, in verschiedene Richtungen gespreizt angebracht sind, um eine Taube im Landen auf verschiedene Arten zu durchbohren.

Siehst du die Plakate an den Wänden, die dir ein warmes Bad vorschlagen? Plakate, die behaupten, du müsstest besser auf dich selbst achtgeben. I value myself, steht über einem zufriedenen Gesicht, und: My well-being is my priority, als Schriftzug am nächsten.

I am cared for.

Schau mal, die Zimmerpflanze, wie sie gegen das Fenster drückt. Siehst du ihre Blätter an der Scheibe, auf der sich die Feuchtigkeit des Innenraums sammelt? Das blaue Licht des Fernsehers zuckt dahinter. Als Kinder sind wir viele Stunden vor dem Fernseher gesessen, weil etwas Beruhigendes von diesem Apparat ausging. Erinnerst du dich noch, wie sich dabei die Welt in diesem Gerät laut anbot, während sich die Welt draußen leise zurückzog?

Komm, geh weiter.

(Schritte)

Die zwei alten Frauen, auf der Bank dort vorne. Als der Hans noch lebte, sind wir oft zum Meer gefahren, sagt die eine.Die andere, ich war immer so gerne am Meer. Das Wasser, das Licht, die Luft. Wenn die zwei über das Meer sprechen, tun sie es, als sei es etwas aus der Vergangenheit, das heute unerreichbar für sie ist.

Wenn du ans Meer denkst, gehst du auch davon aus, dass es eine reale Option ist?

Komm, geh weiter. Geh in die Richtung, in die sich die Stadt verdichtet.

(Schritte, Hundegebell)

Schau mal, dort vorne, die eingezäunte Hundewiese, eine Begegnungszone. Siehst du, wie die Menschen darin in einem Dreieck stehen, in gleichen Abständen entfernt von ihren Hunden, die inmitten des Dreiecks in einem Knäuel verknotet kämpfen? Sie sprechen nicht miteinander, schauen auf ihre Hunde, wie sich diese begegnen.

Komm, weiter.

Siehst du die Turnschuhe der Frau, die vor dir geht? Zwei Füße, in dünnen Socken, tänzelnd, wippen sie vor dir. Die Frau setzt den Fuß leicht ab, probehalber fühlt sie den Grund und lässt den einen Turnschuh dann wippen, knirschend auf Asphalt. Kieselsteine so groß wie Zähne, reiben zwischen Sohle und Grau.

(Knirschen)

Welches Geräusch macht dein Gehen?

(Schritte)

Riechst du den Würstelstand? Am heißen Senf habe ich mir das Maul verbrannt, ruft einer. Ein Niesen. Helles Autolicht. Die Menschen vor den Lokalen tragen in Neonfarben leuchtende Ringe in ihren Haaren als Lorbeerkränze.

Komm, weiter.

(Schritte)

Komm, geh in Richtung Süden. Zum Süden sinken die Häuser im Moorboden schief ein. Die Erde, weich an vielen Stellen. Ist es dir hier auch lieber, wo alles in Bewegung ist?

Warst du in diesem Viertel schon mal? Es unterscheidet sich von dem davor, der Müll türmt sich neben den Tonnen höher, drückt über die Ränder heraus. Eine bauchige Tonne ist umgestürzt, siehst du, wie sich ihr Inneres über den Gehsteig ergießt, wie der Verputz von den Wänden blättert? Weil hier niemand lebt, der bei einer umgeworfenen Tonne sofort einen Anruf macht. Merkst du, wie selbst die Straßenlaternen in dieser Straße heruntergedreht sind?

Siehst du die drei Köpfe von Königen, gegossen aus Gips, in dem Schaufenster dort vorne? Bemalt sehen sie alle gleich aus: die Kronen metallisch glänzend, die großen Schnuller in ihren Mündern pink lackiert, schauen sie alle drei in leicht versetzte Richtungen.

Hörst du, wie sie in den Straßen mit den Holzkochlöffeln auf die Töpfe dreschen, den Kindern sagen, schlagt laut, schreit laut. Damit euch jemand hört, hier.

(Das Geräusch eines Holzlöffels, der auf die Unterseite eines Kochtopfes geschlagen wird)

Kannst du dir vorstellen, wie sich die Stadt an Abenden wie diesen weich anfühlen könnte? Als sei sie einem gewogen. Fühlst du, wie die Mauern unter deinen Händen nachgeben, wenn du mit den Fingern über den Verputz streichst?

Komm, weiter.

(Schritte)

Siehst du die Rauchschwaden, die dort hinten aufsteigen? Der Geruch nach Verbranntem.

Und das Mädchen dort vorne an der Brücke, das mit einer Lässigkeit die Hände in die Seiten gestützt hat, wie sie in der Mitte der Brücke stehend ihrem Bruder zuruft: I throw you off the bridge, in einer Zuversicht, dazu fähig zu sein, wenn er sie mit einem weiteren Wort ärgert? Siehst du die Sichel, die am Grund des Kanals liegt, wie eine Schale, wie eine Bohnenhülse, gelb?

Die Abstände zwischen den Häusern werden größer. Dort vorne versperren noch Äste des gestrigen Sturmes den Weg. Und dort der Baum, der mitsamt den Wurzeln aus der Form gekippt ist, wie er schräg in ein Feld hineinragt? Die Hohlform, die der Baum zurücklässt.

Der Kanal ist wegen des Unwetters über das betonierte Ufer getreten, siehst du, wie er jetzt hindernislos auf den Radweg und die angrenzende Wiese hineinrinnt, als hätte das Wasser hier einen Zugang zur Stadt gefunden.

Spürst du das Wasser, das sich in deinen Schuhen sammelt?

Komm, geh weiter.

(Das Geräusch nasser Socken in Schuhen)

Siehst du die verwachsenen Gleise hier, niemand fährt ab oder kommt an. Hörst du das Klackern der Räder auf den Rillen, zwischen denen das Gras wächst?

Dort vorne, ein Erdhaufen, oben hell gefärbt. Dahinter die Fläche des Teiches, auf der die Vögel stillhalten. Am Rand der Fläche, wo sich das Wasser heller färbt, beginnt ein Vogel zu sinken. Es stört ihn nicht, in seinem Schlaf. Ein moosiges Kanu im Gebüsch, dahinter Bambus hoch wuchernd.

Warst du schon einmal hier?

(Schritte) 

Eine Brache, inmitten der Stadt. Hinter dem Zaun zwei Gänse, mit dicken Bäuchen, ziehen sie die Würmer aus der Erde. Von deinen Bewegungen aufgescheucht, beginnen sie sich dir zu nähern. Zuerst zwei, dann sammelt sich ein ganzer Schwarm aus dem Gebüsch, der an den Zaun heranrückt. Siehst du, wie sie ihre Schnäbel in den Himmel strecken, dir zurufen?

Ich frage mich, was mit der Mutter meiner Freundin passiert ist. Ob die Tante die Mutter nicht erkannt hat, und auch die Mutter die Tante nicht. Kann es sein, dass die Mutter wieder aus dem Bus gestiegen ist, bevor dieser noch losgefahren ist? Oder ist sie zu früh ausgestiegen, an der falschen Haltestelle?

Stell dir die Mutter in einem Feld wie diesem vor, während der Bus davonfährt. Wie sie sich orientierungslos in alle Richtungen wendet. Die Mutter, wie sie erst nach dem Aussteigen ihr Versehen bemerkt. Wie sie nur weiß, dass sie mehrere Grenzen passiert hat, und sich nach einem Ortsschild umsieht, aber keines aufzufinden ist. Wie es an jeder Markierung fehlt. Wie die Mutter sich umsieht, richtungslos, und versucht, die Bilder, die sich von diesem Ort zeigen, mit den Bildern in ihren Erinnerungen abzugleichen.

Das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, habe ich irgendwo gelesen, könne beunruhigend sein, es könne aber, solange es ein temporärer Moment ist, und nicht zu einer in die Länge gedehnten Krise führt, auch die Möglichkeit einer Befragung dieses Bodens sein.

Komm, weiter.

Die Bewegung im Gelände, ein langsames Vertrautmachen.

 

Die Tagung Vom Gehen und von Übergängen in den Künsten konzipiert und geleitet von Uta Degner und Hildegard Fraueneder, fand am 16. Juni 2023 am Programmbereich „Figurationen des Übergangs“ der interuniversitären Einrichtung Wissenschaft und Kunst (Paris Lodron Universität Salzburg / Universität Mozarteum Salzburg) statt. Anhand von konkreten künstlerischen Arbeiten aus den Feldern Literatur, Musik und Kunst wurde das transformative Potential von Übergängen entlang der Fragen nach der Bedeutung von Gerichtetheit oder Richtungslosigkeit beim Gehen, den Beziehungen des sich bewegenden Subjekts und der Umgebung und der Situierung von Wahrnehmung und Reflexion zueinander vorgestellt und diskutiert.

Rechte: CC-BY 4.0

Empfohlene Zitierweise: Anna Maria Stadler: „Welches Geräusch macht dein Gehen?“, in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2023, S. 1-5. DOI: 10.25598/transitionen-2023-4 <https://transition.hypotheses.org/2122>