Was macht Rhythmus? Eine Figur des Übergangs zwischen Literatur und Musik. Peter Jakober und Ferdinand Schmatz im Gespräch

Rhythmen geben Struktur – unseren Arbeitswelten, unserem Zusammenleben, den verschiedenen Tätigkeiten unseres Alltags. Zugleich ist „Rhythmus“ ein schillernder Begriff in gegenwärtigen Debatten der Wissenschaften und der Künste. Er ist als analytische Kategorie einerseits, als Konzept künstlerischer Praktiken andererseits ungemein attraktiv, und das, verfolgt man seine Geschichte bis in die Antike, quasi seit jeher. Was aber jeweils gemeint ist, wenn von Rhythmus die Rede ist, welche ästhetischen Phänomene damit erfasst werden sollen, welche theoretischen Vorannahmen dabei im Spiel sind, ist angesichts der Vielfalt der Verwendungsweisen dieses Begriffs und der zahlreichen Kontexte seines Gebrauchs alles andere als eindeutig.

 

Am 10. Jänner 2020 haben die Literaturwissenschaftlerin Anna Estermann (Salzburg) und der Komponist und Klangkünstler Marco Döttlinger (Salzburg) dazu eingeladen, das Potenzial von „Rhythmus als Figur des Übergangs zwischen Literatur und Musik“ in einem Workshop auszuloten. Die beiden setzen sich in diesem Semester in einer Lehrveranstaltung am Kooperationsschwerpunkt Wissenschaft und Kunst gemeinsam mit Studierenden mit neueren klang- und sprachkünstlerischen Phänomenen des Rhythmus und ihrer möglichen Theoretisierung auseinander. Zum Workshop, der das Format des Künstlergesprächs um Präsentationen von Text- und Soundbeispielen sowie eine offene Diskussion aller Anwesenden erweiterte, waren der Schriftsteller Ferdinand Schmatz, Leiter des Instituts für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien, und der Komponist Peter Jakober (Wien) angereist. Schmatz und Jakober beschäftigen sich in ihrer literarischen und musikalischen Arbeit intensiv mit der Gestaltung von Rhythmus und haben bislang im Rahmen mehrerer künstlerischer Projekte kooperiert.

 

Im ersten Teil des Workshops stellte Anna Estermann ihre Überlegungen zu Rhythmus anhand einer Analyse von Ferdinand Schatz’ Gedicht tokyo, echo / platte (stets) (aus dem Band Tokyo, Echo oder wir bauen den Schacht zu Babel, weiter, 2004) vor. Im Gespräch mit dem Autor standen Fragen der poetischen Produktion und der unterschiedlichen Realisierungen von Rhythmus in der Lektüre im Vordergrund. Marco Döttlinger fasste für die Diskussion grundlegende Begriffe der musikalischen Rhythmusanalyse zusammen und skizzierte Peter Jakobers musikalische Umsetzung von Pulsen, die der Komponist mathematisch erläuterte und mit ausgewählten Einspielungen seiner Stücke illustrierte. Der zweite Teil der Veranstaltung war dem Gemeinschaftswerk Primen (UA beim Steirischen Herbst 2017) von Schmatz und Jakober gewidmet, in dem drei Chöre, zwölf Subdirigenten, ein Sprecher und vier Streicher in ein komplexes Zusammenspiel individualisierter Rhythmen eintreten. Auf einen anschaulichen Werkstattbericht von der intensiven Zusammenarbeit des Schriftstellers und des Komponisten folgte eine längere Hörsequenz aus dem Stück. Im davon angeregten Workshop-Gespräch, an dem sich auch mehrere aktive Musiker_innen beteiligten, wurden insbesondere Fragen nach politischen und gesellschaftlichen Aspekten von künstlerischer Arbeit am Rhythmus in den performative arts aufgeworfen. Die körperliche Dimension des Rhythmus im Spannungsfeld von Kollektivierung und Vereinzelung spielte dabei eine wichtige Rolle. Kontrastierend wurde auf außereuropäische Rhythmus-Praktiken, etwa in der traditionellen balinesischen Musik, verwiesen. In der Diskussion unterschiedlicher Positionen wurde klar, dass ästhetische Entscheidungen im gestalterischen Umgang mit Rhythmen stets über den Bereich formalistisch-struktureller Rhythmuskonzepte, wie etwa abstrakten Vorstellungen von Takt oder Versmaß, hinausweisen. Für eine zeitgemäße Theoriebildung hieße dies, das Potenzial performativer und anthropologischer Zugänge zum Rhythmus mit seinen materiellen und kulturellen Voraussetzungen und Effekten im Zusammenhang einer umfassenden Ästhetik produktiv zu machen.

 

Links zu den Teilnehmer_innen:

Marco Döttlinger: http://www.doettlinger.org/

Anna Estermann: https://www.uni-salzburg.at/fileadmin/multimedia/Literaturarchiv%20Salzburg/20112711_Estermann_Anna.pdf

Peter Jakober: http://www.peterjakober.com/

Ferdinand Schmatz: https://www.dieangewandte.at/jart/prj3/angewandte-2016/main.jart?rel=de&reserve-mode=active&content-id=1458930944469&Pe-Id=259

 

Thomas Assinger, 13. Jänner 2020

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