ÖFFENTLICHE RINGVORLESUNG "Pygmalion". Künstliche Körper und lebende Statuen in den Künsten

Nicole Haitzinger: Corpus erat! Galatea als szenische Figur: Josephine Baker in "Prinzessin Tam Tam" (1935)

Josephine Baker (1906–1975) ist als eine der wenigen Tänzerinnen of Colour der Moderne in das kulturelle Gedächtnis und in den Kanon der performativen Künste eingegangen. Thesenhaft möchte ich im Kontext dieser Ringvorlesung und mit bewegungs-, körper- und inszenierungsanalytischer Perspektive behaupten, dass Josephine Baker als Galatea der Moderne par excellence deutbar ist; sei es bezogen auf ihre instabile Positionalität, sei es in Hinblick auf ihr mehrdeutiges Oeuvre, in der die mythische Grundformel der verlebendigten Statue wiederholt und in Variationen auftaucht. In meinem Vortrag wird das komplexe Verhältnis zweier Figuren, von Pygmalion und der Namenlosen ( – geschichtlich später als Galatea benannt), in seiner modernen ‚Erscheinungsform‘ beleuchtet. Anhand von Josephine Bakers partikulärer szenischen und performativen Präsenz lassen sich meines Erachtens (unvermutete) Resonanzen der Ovid’schen Metamorphosen freilegen, die exemplarisch anhand einer Szene im französischen Film Prinzessin Tam Tam von Edmond T. Gréville (1935) vorgestellt werden. Diesem Film gehen eine Reihe von Pygmalion-Modellierungen ihres Körpers in den 1920er Jahren voran, beispielsweise von Adolf Loos in seinem architektonischen Entwurf des Baker-Hauses (1927), die einleitend im Kontext des Pygmalion-Narrativs in der Moderne präsentiert werden. Grundiert von diesen Überlegungen möchte ich schließlich das form- und ereignisgenerierende Potential von Josephine Bakers vielzähligen Torsionen und ihrer performativen Präsenz akzentuieren, dass das Pygmalion-Regime (zumindest) temporär verwirft beziehungsweise invertiert.

Nicole Haitzinger, seit 2018 Univ. Prof. phil. am Fachbereich Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft der Universität Salzburg,  studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften und absolvierte schließlich ihr Dissertationsstudium mit Ausrichtung Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nahm sie als Dramaturgin und Kuratorin an diversen internationalen Projekten und Theorie-Praxis-Modulen teil. Sie hat die wissenschaftliche Co-Leitung des Universitätslehrgangs „Kuratieren in den szenischen Künsten“ inne und seit 2019 die Leitungsfunktion des vom FWF geförderten Forschungsprojekts Projekts „Border Dancing across Time: The (forgotten) Parisian choreographer Nyota Inyoka, her oeuvre, and questions of choreographing créolité“. Seit Oktober 2019 wissenschaftliche Leitung des interuniversitären und transdisziplinär angelegten  Doktoratskollegs „Wissenschaft und Kunst: Die Künste und ihre öffentliche Wirkung“ (Mozarteum und Paris-Lodron Universität Salzburg). Forschungsschwerpunkte: Theorie, Geschichte und Ästhetik der szenischen Künste vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart; Resonanzen des Tragischen: Figur und Chor;  Inszenierungs-, Körper-, Bewegungs- und Wirkungskonzepte (in verschiedenen historischen Formationen); Moderne als Plural; Staging Europe; Decolonial thought: Szenische Künste; Kuratieren in den szenischen Künsten.

 

Zur Ringvorlesung

Seitdem Pygmalion die von ihm gemachte Statue durch sein Begehren mit göttlicher Hilfe verlebendigte, beschäftigen sich die Künste mit der Materialität des menschlichen Körpers zwischen Leben und Tod, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Verlebendigung und Animismus. An Pygmalion und insbesondere an Galatea reflektieren sie sich in ihrem Kunststatus und in ihrem mimetischen Programm auch selbst. Pygmalions hypermimetisches Bild ist dabei vielleicht zugleich höchste Herausforderung wie schmählichste Kapitulation gegenüber der schärfsten Konkurrentin der Kunst, der Natur. Die Ringvorlesung verfolgt den Mythos, seine Tradierungen und seine Schichten der (Un-)Sinngebung von der Antike und bis in die Gegenwart. Ausgehend von der Meistererzählung Ovids und verwandter bildhafter Verwandlungen wie die von Narziss oder der Propoetiden geht es um künstlich hergestellte Statuen, die lebende Körper imitieren (die in der imaginativen Sphäre der Literatur oder Kunst selbst künstlich sind).

Die Ringvorlesung fragt nach dem Verhältnis des Körpers als materielles, unbelebtes Artefakt und als lebendiges Subjekt. Die künstlichen Objekte imitieren lebende Körper, sie können gesehen und berührt werden. Die Instrumente ihrer Wahrnehmung sind die Körper der Betrachter. In der Pygmalion-Variante des Typus durchläuft das materielle, unbelebte Körperobjekt eine Metamorphose, die es zu einem lebendigen Körpersubjekt macht, das freilich die Sphäre der künstlerischen Imaginiertheit nicht zu überschreiten vermag. Der Übergang zwischen dem Körper als (materielles) Objekt und als (handelndes) Subjekt ist fließend. Im Rahmen der Ringvorlesung werden Vertreter*innen der verschiedensten kulturwissenschaftlichen Disziplinen diese Spannung von Nachahmung und Beseelung, Imagination und Materialität, Körper und Körperfiktion, nicht zuletzt aber auch die Genderfrage zwischen Schöpfung und Schöpfenden beleuchten.

 

Zeit / Ort: 22. März bis 21. Juni 2023, jeweils am Mittwoch 11.15 bis 12.45 Uhr, Unipark Nonntal, Erzabt Klotz-Str. 1, HS 3 Georg Eisler (E.003)

Veranstaltung in meinen Kalender aufnehmen

Konzeption, LV-Leitung: Manfred Kern, Romana Sammern

Bildnachweis: Jean-Léon Gérôme (1824–1904): Pygmalion und Galatea, um 1890. Öl/Leinwand, 88,9 × 68,6 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York. Foto: The Metropolitan Museum of Art // Foto N. Haitzinger: Berenike Heiter