ÖFFENTLICHE RINGVORLESUNG "Pygmalion". Künstliche Körper und lebende Statuen in den Künsten

Jan Völker: Augenangst

Augenangst

In seinem Text über das Unheimliche geht Freud ausführlich auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Sandmann“ ein, in der die Liebe zu einem beseelten Automaten eine entscheidende Rolle spielt. Unheimlich ist für Freud diese Verlebendigung allerdings nicht, das unheimliche Gefühl rührt vielmehr aus einer Drohung an den Helden als Kind, ihm die Augen auszureißen: Augenangst. Diese Drohung bezieht jedoch den Blick des Anderen mit ein, dessen Abwesenheit sie androht. Freud spart den Zusammenhang von Auge und Blick aus, und umgeht so eigentlich Pygmalions Motiv und sein steinernes Medium, das Verlebendigung ermöglichen soll: Erblickt zu werden. Wo aber findet die Verlebendigung statt, im Angeschauten oder im Erblickten? Wer ist Statue, wer lebendig?

PD Dr. Jan Völker, vertritt im Sommersemester 2023 die Professur für Philosophie und Ästhetik an der Bauhaus-Universität in Weimar. Assoziierter Professor an der Postgraduiertenschule ZRC SAZU der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 626 »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der Freien Universität Berlin. Seine Forschungs- und Publikationsschwerpunkte umfassen die Ästhetik Kants, neuere politische Philosophie und das Verhältnis von Kunst und Politik. Er ist außerdem Mitherausgeber der Reihe morale provisoire beim Berliner Merve-Verlag und Übersetzer von Schriften von Alain Badiou und Jacques Rancière.
Publikationen: Alain Badiou / Jean-Luc Nancy: Deutsche Philosophie (Hg. 2017), Neue Philosophien des Politischen zur Einführung (Laclau, Lefort, Nancy, Rancière, Badiou) (2012, mit Uwe Hebekus), Ästhetik der Lebendigkeit. Kants dritte Kritik (2011).

 

Zur Ringvorlesung

Seitdem Pygmalion die von ihm gemachte Statue durch sein Begehren mit göttlicher Hilfe verlebendigte, beschäftigen sich die Künste mit der Materialität des menschlichen Körpers zwischen Leben und Tod, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Verlebendigung und Animismus. An Pygmalion und insbesondere an Galatea reflektieren sie sich in ihrem Kunststatus und in ihrem mimetischen Programm auch selbst. Pygmalions hypermimetisches Bild ist dabei vielleicht zugleich höchste Herausforderung wie schmählichste Kapitulation gegenüber der schärfsten Konkurrentin der Kunst, der Natur. Die Ringvorlesung verfolgt den Mythos, seine Tradierungen und seine Schichten der (Un-)Sinngebung von der Antike und bis in die Gegenwart. Ausgehend von der Meistererzählung Ovids und verwandter bildhafter Verwandlungen wie die von Narziss oder der Propoetiden geht es um künstlich hergestellte Statuen, die lebende Körper imitieren (die in der imaginativen Sphäre der Literatur oder Kunst selbst künstlich sind).

Die Ringvorlesung fragt nach dem Verhältnis des Körpers als materielles, unbelebtes Artefakt und als lebendiges Subjekt. Die künstlichen Objekte imitieren lebende Körper, sie können gesehen und berührt werden. Die Instrumente ihrer Wahrnehmung sind die Körper der Betrachter. In der Pygmalion-Variante des Typus durchläuft das materielle, unbelebte Körperobjekt eine Metamorphose, die es zu einem lebendigen Körpersubjekt macht, das freilich die Sphäre der künstlerischen Imaginiertheit nicht zu überschreiten vermag. Der Übergang zwischen dem Körper als (materielles) Objekt und als (handelndes) Subjekt ist fließend. Im Rahmen der Ringvorlesung werden Vertreter*innen der verschiedensten kulturwissenschaftlichen Disziplinen diese Spannung von Nachahmung und Beseelung, Imagination und Materialität, Körper und Körperfiktion, nicht zuletzt aber auch die Genderfrage zwischen Schöpfung und Schöpfenden beleuchten.

 

Zeit / Ort: 22. März bis 21. Juni 2023, jeweils am Mittwoch 11.15 bis 12.45 Uhr, Unipark Nonntal, Erzabt Klotz-Str. 1, HS 3 Georg Eisler (E.003)

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Konzeption, LV-Leitung: Manfred Kern, Romana Sammern

Bildnachweis: Jean-Léon Gérôme (1824–1904): Pygmalion und Galatea, um 1890. Öl/Leinwand, 88,9 × 68,6 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York. Foto: The Metropolitan Museum of Art

Impressionen "Pygmalion. Künstliche Körper und lebende Statuen in den Künsten: Jan Völker", 24.5.23

Foto: Marie-Astrid Romich