Seit die Künste auf ihrer Autonomie beharren, stellt sich die Frage nach der Beziehung von „Kunst“ und „Leben“. Bis in die Gegenwart werden Debatten geführt, ob das Werk des/der Künstler*in von seinem/ihrem „Leben“ – ihren Taten, Ansichten, Verfehlungen – getrennt betrachtet werden kann, soll oder muss (aktuell: der Streit um den Literaturnobelpreis 2019). Andererseits kritisiert – nach Peter Bürgers „Theorie der Avantgarde“ (1974) – die künstlerische Avantgarde die bürgerliche Institution Kunst und strebt die „Überführung von Kunst in Lebenspraxis“ an. Zu diesen klassischen Fragestellungen kommt in jüngerer Zeit eine weitere: Nicht nur ist jeweils auszuhandeln, was „Kunst“ ist, auch das „Leben“ ist eine problematische Kategorie zwischen Biologie, Ökonomie und Gesellschaft, die sich heute wissenspoetologisch und wissenschaftshistorisch befragen lassen muss. Dieses Spannungsfeld möchte die Ringvorlesung – die erste in einer Reihe, die sich den „Figurationen des Übergangs“ widmet – ausloten. Die einzelnen Beiträge versuchen, paradigmatisch Stationen der Problematik Kunst/Leben im 20. Jahrhundert nachzuzeichnen; sie reichen von der Frage des Realismus in den Künsten über die künstlerische Auseinandersetzung mit den Topoi der Lebenswissenschaften bis zur „Fruchtbarkeit“ im mehrfachen Sinn.
Vortrag von Karin Krauthausen:
„Make it real. Für einen strukturalen Realismus“
Zu den tradierten Übergängen zwischen Kunst und Leben gehören zweifellos die verschiedenen Spielarten des Realismus, die in den Künsten mindestens seit dem 19. Jahrhundert als Stil und teilweise auch als Epoche prominent werden. Wer bei diesen Realismen allerdings – eher konventionell – von einem bloßen Abbildungsbegehren der KünstlerInnen ausgeht, wird spätestens in den Künsten des 20. Jahrhunderts mit Beispielen eines nicht-mimetischen Realismus konfrontiert, die die vorausgesetzte Trennung zwischen Kunst und Leben (respektive Kunst und Wirklichkeit) unterlaufen. Dies geschieht nicht nur durch den Einsatz des Experiments und einem Fokus auf Intervention, sondern grundsätzlicher noch durch die Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins gegenüber den vermeintlich ‚objektiven‘ und ‚mathematisch-formalen‘ Naturwissenschaften. Von zentraler Bedeutung hierfür ist der Strukturalismus (in Linguistik, Ethnologie und anderen Disziplinen), der nicht nur den Erkenntnisanspruch der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften rehabilitiert, sondern auch die realistischen Impulse in der Literatur neu ausrichtet, und zwar auf einen ›strukturalen Realismus‹ (Hubert Fichte). Diese Kopplung von Realismus und Strukturalismus versteht sich allerdings keineswegs von selbst: Seit Roland Barthes‘ programmatischem Text Der Wirklichkeitseffekt werden beide vielmehr als Gegensätze behandelt. Von der produktiven Verbindung zwischen Strukturalismus und Realismus und der damit einher gehenden neuen Relation zwischen Literatur und Wirklichkeit handelt der Vortrag.
Karin Krauthausen ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin am Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung” der Humboldt-Universität zu Berlin. Weitere Informationen: https://www.interdisciplinary-laboratory.hu-berlin.de/de/content/karin-krauthausen/
Konzeption, LV-Leitung: Hildegard Fraueneder, Werner Michler
Bildnachweis: Compagnie Clarance: Voyage au cœur d‘un tableau/Gustave Caillebotte: Les raboteurs de parquet (1875), 2013
Studierende können in PlusOnline bzw. MozOnline die Ringvorlesung unter der LV-Nr. 901.340 belegen.