Sprachliche Transformation als Möglichkeit der Grenzüberschreitung im Klassensystem ist das zentrale Thema in G.B. Shaws Pygmalion-Drama. Shaws sozialkritische Komödie verwandelt das Pygmalion-Motiv des in seine eigene Hervorbringung verliebten Künstlers in ein zwiespältiges Emanzipationsdrama, das sozialen Aufstieg mit Identitätsverlust verbindet. Für das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz neu erzählt: Der (männliche) Wissenschaftler setzt ein sprachlich-soziales Experiment in Gang, bei dem ein Sprachmodell in einem immer komplexer werdenden Lernprozess nachgeahmt und verinnerlicht wird – mit unabsehbaren Konsequenzen. Eine neue Resonanz gewinnt Shaws sozialistisch-humanistischer Sprachwitz heute durch sein Fazit, dass Galatea Pygmalion eher abgeneigt ist. Inwiefern das auch auf die Roboter-Galateas der Silicon-Valley-Ingenieure zutreffen mag, bleibt noch festzustellen.
Caitríona Ní Dhúill studierte Germanistik und Musikwissenschaft am Trinity College Dublin und lehrte an den Universitäten St. Andrews, Durham, Wien und Cork. 2016 war sie Käthe-Leichter-Gastprofessorin für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Wien. Zu ihren Forschungsinteressen zählen Literatur und ökologisches Bewusstsein, Literatur im Anthropozän, Utopie und Dystopie in Theorie und Fiktion sowie Geschlechterdiskurse in der Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Seit März 2023 ist sie Professorin für Neuere deutsche Literatur an der Universität Salzburg.
Zur Ringvorlesung
Seitdem Pygmalion die von ihm gemachte Statue durch sein Begehren mit göttlicher Hilfe verlebendigte, beschäftigen sich die Künste mit der Materialität des menschlichen Körpers zwischen Leben und Tod, Natürlichkeit und Künstlichkeit, Verlebendigung und Animismus. An Pygmalion und insbesondere an Galatea reflektieren sie sich in ihrem Kunststatus und in ihrem mimetischen Programm auch selbst. Pygmalions hypermimetisches Bild ist dabei vielleicht zugleich höchste Herausforderung wie schmählichste Kapitulation gegenüber der schärfsten Konkurrentin der Kunst, der Natur. Die Ringvorlesung verfolgt den Mythos, seine Tradierungen und seine Schichten der (Un-)Sinngebung von der Antike und bis in die Gegenwart. Ausgehend von der Meistererzählung Ovids und verwandter bildhafter Verwandlungen wie die von Narziss oder der Propoetiden geht es um künstlich hergestellte Statuen, die lebende Körper imitieren (die in der imaginativen Sphäre der Literatur oder Kunst selbst künstlich sind).
Die Ringvorlesung fragt nach dem Verhältnis des Körpers als materielles, unbelebtes Artefakt und als lebendiges Subjekt. Die künstlichen Objekte imitieren lebende Körper, sie können gesehen und berührt werden. Die Instrumente ihrer Wahrnehmung sind die Körper der Betrachter. In der Pygmalion-Variante des Typus durchläuft das materielle, unbelebte Körperobjekt eine Metamorphose, die es zu einem lebendigen Körpersubjekt macht, das freilich die Sphäre der künstlerischen Imaginiertheit nicht zu überschreiten vermag. Der Übergang zwischen dem Körper als (materielles) Objekt und als (handelndes) Subjekt ist fließend. Im Rahmen der Ringvorlesung werden Vertreter*innen der verschiedensten kulturwissenschaftlichen Disziplinen diese Spannung von Nachahmung und Beseelung, Imagination und Materialität, Körper und Körperfiktion, nicht zuletzt aber auch die Genderfrage zwischen Schöpfung und Schöpfenden beleuchten.
Zeit / Ort: 22. März bis 21. Juni 2023, jeweils am Mittwoch 11.15 bis 12.45 Uhr, Unipark Nonntal, Erzabt Klotz-Str. 1, HS 3 Georg Eisler (E.003)
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Konzeption, LV-Leitung: Manfred Kern, Romana Sammern
Bildnachweis: Jean-Léon Gérôme (1824–1904): Pygmalion und Galatea, um 1890. Öl/Leinwand, 88,9 × 68,6 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York. Foto: The Metropolitan Museum of Art