György Kurtág
Quartetto per archi Op. 1
Kurtágs Quartetto per archi Op. 1 steht mit seinem Entstehungsjahr 1959 am Ende eines Jahrzehnts, das in Kreisen der westeuropäischen Avantgarde durch die Entdeckung und exzessive Anwendung von serieller Kompositionstechniken bestimmt war. Kurtágs Op. 1 steht in der Flut dieser Musik seltsam inselhaft da und ist doch zu einem Klassiker der Streichquartett-Literatur nach 1950 avanciert. Dieses Inselhafte spiegelt jene Grundhaltung Kurtágs „konzentrischer Selbstbesinnung“ oder wie es Kurtág selbst, Kafka zitierend, ausdrückte: „Meine Gefängniszelle – meine Festung“.
Die sechs Sätze sind doppelt gegliedert in dreimal zwei komplementäre Sätze beziehungsweise in zweimal drei Sätze (I-III, IV-VI), deren Tempi analog geordnet sind. Beispielsweise ergänzt den schnellen, kurzatmigen ersten ein vornehmlich ruhiger sechster Satz, in dessen Mitte zudem die „lichte Flageolett-Melodik“ aus „dem Eingangssatz zitiert“ wird. Der II. Satz korrespondiert mit seinem zwölftönigen Gerüst mit dem V. Satz. Auf vielen Ebenen erscheinen die Satzminiaturen somit verbunden.
Op. 1 galt in Budapest, wo es zunächst nur rezipiert wurde, als unspielbar und wurde erst auf eine couragierte Initiative des Kurtág-Freundes András Mihál nach zahllosen Proben von einem jungen ungarischen Quartett 1960 uraufgeführt. Auch heute ist Op. 1 nur bei sehr wenigen Quartetten im Repertoire.
Für die extrem diffizile Sprache dieses Werkes gibt es jedoch mehrere Schlüssel. Einer liegt im Umgang mit den in der Studienpartitur von Op. 1 veröffentlichten Metronomzahlen.: Im Gegensatz zu denen von Weberns Op. 5 und Bartóks 2. Quartett – sind sie laut Kurtágs eigener Aussage nicht „wörtlich“ zu nehmen. Ein zweiter Schlüssel liegt in der Gesten-, ja Bildhaftigkeit dieser Musik durch – was Kurtág ohnehin auch in seinem Kammermusik-Unterricht immer wieder als Mittel einsetzt – außermusikalische Szenen, Eindrücke, Bilder. Dies ist auch bei diesem höchst abstrakten Stück die einzige Möglichkeit, diese Musik mit Leben zu füllen und nicht an ihren der Unspielbarkeit nahen spiel- und vor allem zusammenspieltechnischen Abläufen zu zerbrechen.
Der erste Satz wurde von Kurtág mit „Die Kakerlake sucht den Weg zum Licht“ betitelt. Bezüglich des V. Satzes existieren in den Skizzen zwei in der veröffentlichten Partitur nicht enthaltene Titel: Für den gesamten Satz „Obsessions“, für den Teil ab Takt 12: „Les anges, les anges dans le ciel“. Zum IV. Satz erzählte Kurtág die Geschichte von frech tschilpenden Spatzen in einem Pariser Park, was dem Satz den Titel „Vogel-Scherzo“ eintrug. (© Simone Heilgendorff)
György Kurtág (geb. 1926) gilt neben György Ligeti als einer der bedeutendsten ungarischen Komponisten nach 1945. Darüber hinaus ist er ein ausgezeichneter Pianist, Duopartner mit seiner Frau Marta sowie ein akribischer und inspirierender Kammermusiklehrer.
Kurtág begann das Klavier- und Kompositionsstudium in Timisoara, bevor er es 1946 in Budapest fortsetzte. Ende der 1950er Jahre besuchte er Kurse bei Darius Milhaud und Olivier Messiaen in Paris. Diese Zeit, in der er auch mit der ungarischen Psychologin Marianne Stein zusammenarbeitete, in der er die Musik Anton Weberns kennenlernte und dem Werk Samuel Becketts begegnete, hat sein musikalisches Denken tief geprägt. Ein Stipendium des DAAD führte ihn 1971 ebenso wie György Ligeti für eine Zeit nach Berlin, viele Jahre später lud ihn das Wissenschaftskolleg zu Berlin als Composer-in-Residence der Berliner Philharmoniker ein. Es folgten Aufenthalte in Wien, Den Haag, Paris und Bordeaux. Kurtág lebt heute wieder in Budapest.