Lena Frischlich

Demokratische Resilienz

Resilienz als Ergebnis und Prozess

Die Psychologie unterscheidet zwischen Resilienz als Ergebnis und Resilienz als Prozess (Miller-Graff, 2020). Die Prozessperspektive nimmt nicht nur das beobachtbare Ergebnis in den Blick, etwa ob es gelingt nach einer Belastung zu einem Zustand des Wohlbefindens zurückzukehren, sondern auch die Mischung von Hindernissen und Ressourcen bei der Bewältigung (Hamby et al., 2018). Neben individuellen Persönlichkeitseigenschaften stehen dabei vor allem soziale und gesellschaftliche Rahmenbedingungen im Fokus, zum Beispiel ob Belastungen durch soziale Ungleichheit den resilienten Umgang mit einer Krise zusätzlich erschweren (Miller-Graff, 2020).
Darauf aufbauend beschreibt demokratische Resilienz Gesellschaften, die angesichts von Erschütterungen und Herausforderungen demokratischen Normen und deliberativer Politik verpflichtet bleiben. Deliberative Politik bezeichnet laut Habermas (2002) Regierungsformen, in denen freie und gleiche Bürger:innen und ihre Repräsentant:innen (politische) Entscheidungen begründen, und zwar so, dass die Begründungen für „vernünftige“ Bürger:innen akzeptabel und nachvollziehbar sind (Gutmann & Thompson, 2004). Diese Vernunft ist dabei keine rein logische, sondern eine ethische: Das klare Bekenntnis zu Gleichwertigkeit und gegenseitiger Achtung (Nussbaum, 2011) wie es etwa in den Menschenrechten oder im deutschen Grundgesetz verankert ist.

Nun sind Herausforderungen und Erschütterungen ein fortwährender Bestandteil des demokratischen Prozesses, und umfassende Gleichberechtigung ist wohl in keinem Land der Welt verwirklicht. Die „resiliente Demokratie“ ist ein Ideal und gegebenenfalls eine Momentaufnahme, kein abgeschlossener Zustand. Ein reines „Zurückspringen“ zum Zustand vor der Krise reicht zum Erfüllen der normativen Erwartungen an Demokratie nicht aus. Neben demokratischen Ergebnissen, also etwa der erfolgreichen Durchführung von Wahlen, müssen also auch demokratische Prozesse wie die Sicherstellung von Gleichwertigkeit, Zugänglichkeit von Begründungen und Partizipation berücksichtigt werden.

Digitalisierung als Gelegenheitsstruktur

In der digitalen Gesellschaft ergeben sich neue Gelegenheitstrukturen für die Umsetzung demokratischer Prozesse. Bürger:innen können direkt mit Politiker:innen in Kontakt treten. Noch nie war es so leicht, sich über verschiedenste Themen zu informieren, etwa per Mausklick die Protokolle des deutschen Bundestages zu durchsuchen (https://www.bundestag.de/protokolle) oder ganz allgemein sich an eine potentiell globale und zeitlich unbegrenzte Netzöffentlichkeit zu wenden.  Soziale Bewegungen wie etwa Black-Lives-Matter (Mundt et al., 2018) wären ohne die globale Netzöffentlichkeit in dieser Form sicher nicht denkbar.

Gleichzeitig entstehen auch neue Gelegenheitstrukturen für anti-demokratische Akteur:innen (Frischlich, 2018), für strategische Manipulation und generell „dunkle Partizipation“ (Quandt, 2018). Phänomene wie Hatespeech, Desinformationen, oder Verschwörungserzählungen gehören zu den Schattenseiten der digitalen Gesellschaft. Hatespeech beschreibt kommunikative Angriffe auf Personen aufgrund ihrer sozialen oder kollektiven Identität (Gagliardone et al., 2016), die gegen das demokratische Gleichwertigkeitsprinzip verstoßen. Desinformationen sind strategisch verbreitete Informationen mit Täuschungsabsicht (Steinebach et al., 2020), welche die fundierte Meinungsbildung und Partizipation erschweren. Verschwörungserzählungen erklären aktuelle, historische, oder zukünftige gesellschaftliche Ereignisse durch das absichtsvolle und geheime Handeln einer Gruppe von Personen aus selbstsüchtigen Motiven und zum Schaden anderer. Klar ist: Reale Verschwörungen existieren und der Glaube an Verschwörungstheorien kann evolutionär funktional sein (van Prooijen & van Vugt, 2018). Verschwörungserzählungen im engeren Sinne liegt jedoch die Vorstellung eines ewigen Kampfes zwischen „den Guten“ und „den Bösen“ zugrunde, ein manichäisches Weltbild, das dem Gleichberechtigungsgebot entgegensteht. Zudem gehen Verschwörungserzählungen von einer unrealistischen Macht der Verschwörer:innen aus und sind oft nicht widerlegbar: fehlende oder Gegenbeweise werden als Teil einer größeren Verschwörung interpretiert (Baden & Sharon, 2021; Cíbik & Hardoš, 2020). Damit wird gegen das Prinzip der angemessenen Begründung verstoßen.

Natürlich verletzt nicht jede Beleidigung demokratische Prinzipien, nicht jede Fehlinformation verhindert die begründete Entscheidungsfindung, nicht jede Theorie über eine Verschwörung postuliert einen apokalyptischen Kampf zwischen Gut und Böse. Das anti-demokratische Moment beginnt nicht dort, wo jemand etwas Unvernünftiges glaubt (Nussbaum, 2011) oder sich im Ton vergreift  (Muddiman, 2017). Er beginnt dort, wo der demokratische Konsens von gegenseitigem Respekt, von Gleichwertigkeit und Begründbarkeit verlassen wird und andere in ihren Rechten auf Respekt und Partizipation eingeschränkt werden.

Zwar sind die Herausforderungen durch anti-demokratische Inhalte nicht neu, Digitalisierung und globale Vernetzung haben aber zu disruptiven Veränderungen im Hinblick auf Geschwindigkeit und Dynamik ihrer Verbreitung geführt. Eine resiliente digitale Demokratie muss daher einen Umgang mit diesen Herausforderungen finden. Dazu gehören Mediennutzende, die mit Verletzungen demokratischer Normen im Netz kompetent und unter Einhaltung demokratischer Prinzipien umgehen können und ein Umfeld, das ihnen einen solchen Umgang ermöglicht. Ein demokratischer Umgang mit Hatespeech, Desinformationen und Verschwörungserzählungen berücksichtigt sowohl die (Meinungs-) Freiheit Einzelner als auch die Gleichwertigkeit aller und ist dem deliberativen Ideal der nachvollziehbaren Begründung von Entscheidungen durch Transparenz verpflichtet.

Ein ergebnisorientiertes und prozesshaftes Verständnis demokratischer Resilienz zielt nicht nur darauf ab, anti-demokratische Kommunikation um jeden Preis zu verhindern oder, im Gegenteil, um jeden Preis jedwede Inhalte stehen zu lassen, die als Meinung gekennzeichnet sind. Stattdessen werden Maßnahmen dahingehend bewertet, ob sie deliberativen Idealen im Prozess, im Verlauf demokratischer Debatten, verpflichtet bleiben. Dabei müssen ― nimmt man den Resilienzbegriff ernst ― Ressourcen und Widrigkeiten auf individueller Ebene ebenso berücksichtigt werden wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen wie der Zugang zu Informationen und zu politischer und medialer Bildung oder zusätzliche Herausforderungen durch soziale Ungleichheiten.

 


Referenzen

Baden, C., & Sharon, T. (2021). Blinded by the lies? Toward an integrated definition of conspiracy theories. Communication Theory, 31(1), 82–106. https://doi.org/10.1093/ct/qtaa023

Cíbik, M., & Hardoš, P. (2020). Conspiracy theories and reasonable pluralism. European Journal of Political Theory, 147488511989923. https://doi.org/10.1177/1474885119899232

Frischlich, L. (2018). Propaganda3: Einblicke in die Inszenierung und Wirkung von Online-Propaganda auf der Makro-Meso-Mikro Ebene. In B. Zywietz (Hrsg.), Fake-News, Hashtags & Social Bots: Neue Methoden der populistischen Propaganda (Propaganda, S. 133–170). Springer Fachmedien VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22118-8

Gagliardone, I., Pohjonen, M., Zerai, A., Beyene, Z., Aynekulu, G., Bright, J., Bekalu, M. A., Seifu, M., Moges, M. A., Stremlau, N., Taflan, P., Gebrewolde, T. M., & Teferra, Z. M. (2016). MECHACHAL: Online debates and elections in Ethiopia—From hate speech to engagement in social media (S. 104–104).

Gutmann, A., & Thompson, D. (2004). Why deliberative democracy? Princeton University Press.

Habermas, J. (2002). Deliberative politics. In D. Estlund (Hrsg.), Democracy (S. 107–125). Blackwell Publishing.

Hamby, S., Grych, J., & Banyard, V. (2018). Resilience portfolios and poly-strengths: Identifying protective factors associated with thriving after adversity. Psychology of Violence, 8(2), 172–183. https://doi.org/10.1037/vio0000135

Miller-Graff, L. E. (2020). The multidimensional taxonomy of individual resilience. Trauma, Violence, & Abuse, 152483802096732. https://doi.org/10.1177/1524838020967329

Nussbaum, M. C. (2011). Perfectionist liberalism and political Liberalism. Philosophy & Public Affairs, 39(1), 3–45. https://doi.org/10.1111/j.1088-4963.2011.01200.x

Quandt, T. (2018). Dark participation: Manipulative user engagement in the news making process. Media and Communication, 6(4), 36–48. http://dx.doi.org/10.17645/mac.v6i4.1519

Steinebach, M., Bader, K., Rinsdorf, L., Krämer, N., & Roßnagel, A. (Hrsg.). (2020). Desinformationen aufecken und bekämpfen. Interdisziplinäre Ansätze gegen Desinformationskampagnen und für Meinungspluralität. (Bd. 45). Nomos Verlag. https://doi.org/10.5771/9783748904816

van Prooijen, J.-W., & van Vugt, M. (2018). Conspiracy theories: Evolved functions and psychological mechanisms. Perspectives on Psychological Science, 13(6), 770–788. https://doi.org/10/gfksh7

 

Lena Frischlich

Lena Frischlich ist Kommunikationswissenschaftlerin und promovierte Medien – und Sozialpsychologin. Sie leitet an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster die interdisziplinäre Nachwuchsforschungsgruppe „DemoRESILdigital: Demokratische Resilienz in Zeiten von Online-Propaganda, Fake news, Fear und Hate speech“.