Ukrainische Bricolage. Wie die Kulturszene der Ukraine dazu beiträgt, ihr Land zu verteidigen

Veranstaltungsbericht von Philipp Kaysers

Der im Februar 2022 begonnene völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Russischen Föderation gegen die benachbarte Ukraine führte neben flächendeckender Zerstörung in manchen Gebieten zur Vertreibung zahlloser Menschen und zum Tod einer Vielzahl von Zivilist:innen und Soldat:innen. Außenpolitisch markiert der Ukrainekrieg damit das Ende der postsowjetischen Transformationsphase und bildet den Beginn einer wohl länger währenden Konfrontation zwischen dem Aggressor und den NATO-Staaten. Die westeuropäische Berichterstattung behandelt den Krieg umfangreich, jedoch kommen nur selten Stimmen aus der Ukraine zu Wort. Die hiesige Diskussion wird somit von westlichen Expert:innen bestimmt, die meist aus einer gewissen Distanz heraus über das Land und seine Bewohner:innen sprechen. Im Fokus der Diskussion bleiben vorwiegend die militärisch-politische Entwicklung sowie die überregionalen und globalen Auswirkungen des Konflikts. Sichtweisen und Positionen einzelner und vor allem ‚kleinerer‘ Akteur:innen, die abseits staatlicher Organisationen und Institutionen agieren, geraten auf diese Weise aus dem Blick oder werden einem breiteren Publikum gar nicht erst bekannt. Es verwundert somit nicht, dass bisher Formen ästhetischer Kommunikation und künstlerische Projekte im Kontext des Krieges in der Ukraine zu wenig behandelt werden.

Dies überrascht insofern, als sich die ukrainische Kunstszene bereits vor dem 24. Februar 2022 und der Annexion der Krim im Jahre 2014 durch ihre innovativen Ansätze auszeichnete, Kunst mit Politik und Protest zu verbinden. So bildete sich laut Herwig Höller spätestens seit der Orangenen Revolution 2004 in der ukrainischen Kunst eine besondere Affinität für den politischen Raum und für die Protestkultur heraus, wie beispielsweise die Aktionen des Kyjiver Visual Culture Research Center bezeugen. Um die bestehende Wissenslücke zu verkleinern, widmete sich daher der Programmbereich Figurationen des Übergangs der interuniversitären Einrichtung Wissenschaft und Kunst (Universität Salzburg/Universität Mozarteum) im Rahmen von zwei Veranstaltungen dem Kommunikationsdesign ukrainischer Künstler:innen und Akteur:innen während des andauernden Krieges.

Ziel der von Herwig Höller und Peter Deutschmann konzipierten hybriden Diskussionsrunde Von der Kunst im Krieg. Künstlerische Strategien im ukrainischen Kommunikationsdesign und der ebenfalls hybriden Tagung Ukrainische Bricolage, die vom 1.-2. Dezember 2022 stattfanden, war es, die nicht zu unterschätzende Rolle der ukrainischen kreativen Szene im derzeitigen Krieg hervorzuheben. So beeinflussen und prägen seit Beginn der Kampfhandlungen diese Akteur:innen u.a. über soziale Medien oder mittels Crowdfunding finanzierte Design-Kampagnen den Widerstand im Land sowie die öffentliche Diskussion im Westen. Statt aus distanzierter Sicht über die ukrainische Kunst und ihre Produzent:innen zu sprechen, kamen im Rahmen der von Peter Deutschmann und Herwig Höller organisierten Veranstaltungen verschiedene Kunstschaffende zu Wort, deren Projekte im Weiteren kurz skizziert werden. Bevor jedoch die Beiträge der Tagung Ukrainische Bricolage im Einzelnen betrachtet werden, soll zuvor auf die Diskussionsrunde am Abend eingegangen werden.

i.

Teilnehmer:innen der Abendveranstaltung waren der Journalist Ingo Hasewend (Salzburger Nachrichten), die Kulturproduzentin Oleksandra Saienko sowie der ehrenamtliche Mitarbeiter des ukrainischen Präsidentenbüros Serhij Leschtschenko. Moderiert wurde die Diskussion von Herwig Höller. Rückblickend fiel der Erkenntnisgewinn des Panels jedoch recht mager aus, was auch an der fehlenden Interaktion zwischen den einzelnen Diskutant:innen gelegen haben kann. Mag man der Livezuschaltung Leschtschenkos aus Kyjiv eine gewisse Unmittelbarkeit zugestehen, die die Nähe des Krieges dem Salzburger Publikum verstärkt suggerierte, blieb der Diskussionsbeitrag Leschtschenkos in Bezug auf das Kommunikationsdesign eher dürftig. Zwar verdeutlichte das Mittel der Livezuschaltung, welches ja auch die ukrainische Regierung für zahlreiche internationale Anlässe nutzt, ein zeitgenössisches Instrument der Kommunikation, jedoch fehlte die anschließende Bezugnahme auf diesen Kommunikationskanal im weiteren Verlauf des Panels. Der Beitrag Hasewends bestätigte die Professionalität ukrainischer Akteur:innen in der journalistischen und politischen Kommunikation. Auffällig zu kurz kam auch der Beitrag Saienkos, der auf die Verarbeitung des Habsburger Erbes in der zeitgenössischen ukrainischen Kultur verwies. Saienko sprach unter anderem über ihre Oper Vyschyvaniy. König der Ukraine, womit sie dem westlichen – insbesondere aber dem österreichischen – Publikum kulturhistorische Anknüpfungspunkte bot. Zusammenfassend wurde somit zwar ein breiter Überblick auf das ukrainische Kommunikationsdesign geboten, jedoch fehlte es an Tiefe und letztlich auch an Diskussionen und Austausch zwischen den Anwesenden. Vor diesem Hintergrund zeichnete sich die am nächsten Tag stattfindende Tagung umso mehr durch ihren aufschlussreichen und informativen Charakter aus.

ii.

Der erste Vortrag im Rahmen der Ukrainischen Bricolage widmete sich nicht der Kunstproduktion, sondern der Kehrseite – der Zerstörung von Kunstwerken. Der gegenwärtige Krieg bedroht das kulturelle Erbe in der Ukraine unmittelbar. Insbesondere seit Beginn der Invasion im Frühjahr 2022 sind die Verluste an materieller Kultur aufgrund der brutalen Vorgehensweise der russischen Armee groß. Die Kunsthistorikerin Schenja Moljar sprach in ihrem Beitrag daher über den Schutz des kulturellen Erbes in der Gefahrenzone, bei dem verschiedene Gruppen und NGOs zusammenarbeiten. Als ein Beispiel für die Notwendigkeit solcher Rettungsaktionen führte Moljar die Plünderungen des Novoajdar’skij rajonnij krajeznavčij muzej (Bezirksmuseum Novoaidar für lokale Volkskunst) durch russische Truppen an. So wurde etwa die dort befindliche Sammlung an ukrainischen Volkstrachten nach Russland transportiert und das Ausstellungskonzept in Moskau mit russischen Trachten ergänzt. Unter Rückgriff auf andere Beispiele verdeutlichte Moljar, dass es sich bei einem Teil der Deportation und Zerstörung ukrainischer Kunstgüter um gezielte Aktionen handle.

In diesem Zusammenhang kartiert ein Projekt der Ukraïns’kij kul’turnij fond (ukrainischer Kulturfond) die Vernichtung von Kulturgütern. Auf diese Weise wird ein zeitnaher Überblick über die Verluste geboten und die systematische Verheerung festgehalten. Verzeichnet diese Unternehmung rein deskriptiv die Schäden, widmen sich andere Gruppen dem aktiven Schutz von Kunstwerken. So organisiert beispielsweise die Heritage Emergency Response Initiative neben der Dokumentation der Verluste notwendige Ausrüstung zur Rettung von Kunstschätzen im Kriegsgebiet. Der Ukrainian Emergency Art Fund stellt hingegen einen Zusammenschluss von Kulturaktivist:innen und Museumsmitarbeiter:innen dar und sichert die Fortsetzung und Entwicklung ukrainischer Kultur im Krieg durch Ausstellungen und andere Kunstaktionen. Die selbstorganisierte Kunstinitiative DE NE DE (Wo nicht Wo) vereinigt Künstler:innen, Historiker:innen, Architekt:innen und Aktivist:innen aus dem Kulturbereich und hat sich dem Schutz von Kulturgütern in kleineren Museen der Peripherie verschrieben. Ein weiteres Beispiel ist das Network for the Protection of Cultural Assets Ukraine, das sich auf die internationale Zusammenarbeit beim Schutz von Kulturgütern spezialisiert hat. Ziel des Projekts unter der Beteiligung deutscher Universitäten und Kulturschaffender ist es, den Transport ukrainischer Kulturgüter aus den Kriegsgebieten ins westliche Ausland zu sichern und zu finanzieren.

Die Vortragende widmete sich in ihrem Vortrag aber auch dem Problem der Kompromittierung der russischen Kultur durch die Politik. Diese Instrumentalisierung von russischer Kunst und Literatur führte bereits, so Moljar, im letzten Jahrzehnt zu einer immer stärkeren Ablehnung des eigenen und russischen sowjetischen Kulturerbes in der Ukraine. Ausdruck dessen waren die Gesetze zur Dekommunisierung, die auch eine verstärkte Auseinandersetzung mit der sozialistischen Architektur hervorgerufen haben. Im gegenwärtigen Krieg zerstören die Angriffe der Russischen Föderation im Donbas – wie Moljar mit Bildern belegte – die sowjetische Architektur der 1930er-Jahre, wodurch architektonisch und kunsthistorisch bedeutende Gebäude für spätere Generationen vollständig verschwinden werden. Schließlich wird so auch ein gemeinsames Erbe zwischen den Ländern zerstört. Das Projekt Yellow Line hat es sich in diesem Rahmen zur Aufgabe gemacht, diese Architekturdenkmäler des 20. Jahrhunderts zu dokumentieren. Dazu gehören neben Gebäuden auch großflächige Mosaike, wie sie etwa von Alla Gorska in Mariupol angefertigt wurden, die bis zu ihrer Zertrümmerung Zeugnisse der dekorativen Monumentalkunst der Sowjetunion waren. Das heute vernichtete Erbe wird nach Einschätzung der Vortragenden wohl auch in Zukunft nicht mehr restauriert werden. Somit verdeutliche der militärische Ikonoklasmus schlussendlich, dass der russischen Seite das gemeinsame Kulturerbe bedeutungslos sei.

Abschließend sprach die Referentin über das Aufnehmen, kritische Überdenken, aber auch Umdeuten des sowjetischen Erbes in der zeitgenössischen ukrainischen Kunst. So wurden beispielsweise die Heldenstadt-Denkmäler in Kyjiv von Künstler:innen umgearbeitet und zeigen anstatt der zwölf sowjetischen Heldenstädte (goroda-geroj) des 2. Weltkriegs nun ukrainische Heldenstädte, zu denen etwa das durch das Massaker bekanntgewordene Buča zählt. Erkennbar beschleunigt sich aufgrund des Kriegs die Entfernung der sowjetischen Symbole und Denkmäler im öffentlichen Raum.

iii.

Der Kyjiver Programmierer und Kulturschaffende Dmytro Kyrpa präsentierte das Projekt Repair Together, welches sich der Reparatur zerstörter Gebäude in den bereits befreiten Gebieten widmet. Den Organisatoren dieses Projekts fiel auf, dass in den meisten Orten – trotz der zum Teil nur kurzzeitigen russischen Besatzung – fast alle Häuser schwer beschädigt waren. Aufgrund der schwierigen Lebensumstände in Kyjiv – Sperrstunden und die daraus letztlich resultierende Isolierung der einzelnen Person – bot es sich an, dass man außerhalb der Hauptstadt, in den befreiten Gebieten um Černihiv, zerstörte Gebäude gemeinsam wieder instand setzt. Diese Aufräum- und Reparaturarbeiten werden dabei mit Tanzveranstaltungen verbunden. Bekannte ukrainische DJs spielen bei den Aktionen Technomusik, wodurch die Trümmerarbeit von Rave-Partys begleitet wird. Was zunächst ungewöhnlich und widersprüchlich klingt – während des Krieges zu feiern –, verfolgt jedoch konkrete soziale Ziele, die über ein reines Unterhaltungsmoment hinausgehen.

Die Teilnehmer:innen dieser Aktionen können sich produktiv bei der Restaurierung der zerstörten Gebäude einbringen, was dem Gefühl der Tatenlosigkeit und Ohnmacht des Einzelnen angesichts der Gewalt des Krieges etwas entgegensetzt. Die verbindende Gruppenarbeit ist aus Sicht des Organisators nicht lediglich ein Beistand für die Menschen in den zerstörten Orten, sondern auch für die Helfer eine psychologische Selbsthilfe. Die Freiwilligenarbeit im Projekt Repair Together sei daher, wie Kyrpa ausführt, eben nicht auf das Moment der körperlichen Arbeit oder das Feiern zu reduzieren, sondern stellt eine Möglichkeit dar, neue private Bindungen zu schaffen und den Mitgliedern einen kurzweiligen Ausbruch aus dem Kriegsalltag zu bieten. Das unterhaltende musikalische Moment begegnet so auch dem aufgrund von Krieg und Flucht verursachten Verlust des sozialen Umfelds. Die gemeinschaftliche Aufbauarbeit aktualisiere, so der Organisator der Rave-Rebuild-Partys, das bäuerliche Konzept der toloka (dörfliche Gemeinschaftsarbeit) und verorte sich folglich direkt in der ukrainischen Kultur. Neben der Organisation dieser Veranstaltungen sammelt das Kollektiv um Kyrpa im In- und Ausland private Spenden für den Aufbau der Häuser.

vi.

Der Künstler Ihor’ Hussjew (russ. Igor’ Gusev) gehört seit den 1990er-Jahren zu den wichtigsten Vertretern der ukrainischen Kunstszene. Mit seinem ‚Odessitischen Blick‘ dekonstruiert er in seinen Werken sozialistische und imperialistische Narrative der russischen Kulturgeschichte auf oft humorvolle Weise. Hussjew sieht in der Kunst seine Waffe, die er gegen die täglichen Bombardierungen im Krieg einsetzen kann. Aufgrund der derzeitigen Mangelversorgung ist es schwer, in seiner Heimatstadt Odessa an Malutensilien – insbesondere aber an Leinwände – zu kommen. Abgesehen davon, dass die Verfügbarkeit der Künstlermaterialien eingeschränkt ist, empfindet der Maler überdimensionierte Bildformate derzeit als unpassend. Als Bildträger verwendet Hussjew aus diesen Gründen die Buchdeckel gebrauchter sowjetischer Bücher, die er auf dem Flohmarkt erwirbt. Auf diesen Bruchstücken zeichnet er sein bildnerisches Tagebuch, das seit Beginn des Krieges unter dem Titel Series 3 World War 2022 erscheint. Je nach Situation greift der Künstler entweder aktuelle Geschehnisse des Krieges auf oder er malt Bilder mit allgemeinem Bezug auf den militärischen Konflikt. So verarbeiten seine Werke etwa die Angriffe von Drohnen iranischer Bauart oder zeigen eine junge Sängerin, die bei der Verteidigung von Mariupol die ukrainischen Truppen mit ihrer Musik unterstützt.

In seinem Tagebuch herrscht ein intermediales Spiel zwischen Wort und Bild, das sich stark auf Ironie und Sarkasmus stützt. Viele seiner Arbeiten bieten trotz der ernsten Sujets einen verschmitzten, entlarvenden Blick auf die Geschehnisse und gegenwärtigen Verhältnisse. Ein größerer Teil der Bilder ist dabei aufgrund der Vielzahl an kulturellen Referenzen für Personen, die nicht Teil des postsowjetischen, ukrainischen oder auch russischen Kulturkreises sind, nur schwer verständlich. So findet eine Auseinandersetzung mit der russischen Invasion etwa über Sprachspiele statt. Eine Zeichnung zeigt eine ukrainische Landschaft mit Feldern und bewaffneten Personen. Der Himmel ist durch die Worte „Vse bude udobrenija“ durchbrochen, was sich mit ‚alles wird gut‘, aber auch mit ‚alle werden Dünger‘ übersetzen lässt. Auf diese Weise sei, so der Künstler, zum einen die Hoffnung ausgedrückt, dass sich der Krieg zum Besseren wenden werde und zum anderen werde den Invasoren mitgeteilt, dass sie mit ihrem Ableben zu Dünger für die ukrainischen Felder werden. Erinnern Himmel und Feld an die ukrainische Nationalflagge, unterläuft der Allquantor vse dennoch sämtliche binären Oppositionen und schließt so die Gefallenen beider Seiten als Nährgemisch ein.

Der Tagungsflyer zeigte eine Bearbeitung von Karl Brjullovs Gemälde Poslednij den’ Pompei (Die letzten Tage Pompejis). Hussjews Adaption trägt jedoch den Titel Ostannij den’ imperiji (Die letzten Tage des Imperiums). Mit der neuen Betitelung wird auf die in russischen konservativen Kreisen heute noch vorherrschende Idee eines künftigen russischen Imperiums angespielt. Eben dessen Untergang soll diese Bild-Text Verknüpfung evozieren, so Hussjew. Anders als im Original erscheint auf Hussjews Bild eine schreitende Figur in roter Farbe stilisiert, die sich wie die Personen auf dem Gemälde Brjullows von dem apokalyptischen Geschehen abwendet und scheinbar flieht. Der Kopffüßler besteht jedoch aus einem verfremdeten McDonalds Werbeschild, bei dem das Logo der Kette – das markante gelbe M – mit der Stadt Moskau verbunden ist. Somit spielt Hussjew auf die panischen Massen von russischen Konsument:innen an, die nach Beginn des Angriffskrieges und den darauffolgenden Sanktionen scharenweise westliche Geschäfte gestürmt hatten. Der Blick ist nicht nur von der Katastrophe abgewendet, sondern greift den in der russischen Gesellschaft persistierenden Wunsch nach westlicher Lebenskultur auf. Das ideologische Programm russischer Imperialist:innen, das in der Regel mit einer proklamierten Abwendung vom Kapitalismus und Materialismus einhergeht, wird hier – wie Hussjew erläuterte – mit den eigentlichen Wünschen der Menschen kontrastiert und die Absurdität der bestehenden Verhältnisse aufgezeigt.

Ein anderes Projekt Hussjews widmet sich der russischen Propaganda. Der Künstler präpariert Alltagsgegenstände wie Fernsehgeräte oder Radios, indem er diese mit Watte füllt. Das weiße Material steht stellvertretend für das Problem, dass die meisten Russen aufgrund der Propaganda einfache Ursache-Folge-Beziehungen nicht mehr verstünden, wie der Künstler ausführte. Die Sanktionen gegen Russland würden beispielsweise von der Propaganda als produktiv und ökonomisch günstig verklärt. Sie würden Russland nur stärken und langfristig zu einer positiven Entwicklung verhelfen. Menschen, die auf solche Propaganda hören und letztlich nicht mehr selber denken könnten, bezeichne man laut dem Künstler als vatniki (Wattierte). Da die russischen Unternehmen aufgrund der Sanktionen nun nicht mehr alles herstellen könnten, verstehe er seine ausgestopften Alltagsgegenstände als Designvorschlag. In diesem Sinne könne man statt westlicher Technologieimporte auf Watte – also die eigene Propaganda – zurückgreifen, um bei der sanktionierten Produktion die fehlenden Teile zu ersetzten.

v.

Die Grafikerin und Designerin Marija Norazian zeigte zuletzt, wie künstlerische Kommunikationsstrategien den Krieg in der Ukraine im Ausland sichtbarer machen. In diesem Zusammenhang stellte sie ihr Design Studio Grafprom vor. Zu Beginn des Vortrags betonte sie, dass ihre Arbeit insbesondere durch die Architektur des Wolkenkratzers Deržprom im Stil des Charkiver Konstruktivismus der jungen Sowjetunion beeinflusst sei. Deren damalige Formvorstellungen empfindet die Künstlerin auch heute noch als zeitgemäß. Norazian schilderte, wie über das 4th block Festivalmehr als 20.000 Poster für Frieden und gegen den Krieg produziert und diese in mehr als 50 Ländern ausgestellt wurden.

Vor dieser Aktion habe Norazian das Plakat nur als eine Form der Kunst- und Festivalwerbung gesehen, erst mit dem Krieg sei ihr das volle Potential des Mediums im Kontext politischer Kommunikation bewusst geworden. Mit dem Design im Kontext von Politik beschäftigte sich die Künstlerin bereits vor dem Krieg und verwies auf eine Ausstellung, die sie zusammen mit dem Autor Serhij Zhadan im Literaturhaus Salzburg organisiert hatte. Diese zeigte Antikriegsplakate im Kontext des 2014 begonnen militärischen Konflikts im Osten der Ukraine und der russischen Annexion der Krimhalbinsel. Im Weiteren zeigte Norazian verschiedene Poster, die seit dem Beginn der Invasion von ihr gestaltet und in verschiedenen Städten aufgehängt wurden.

Ukrainian Design Tram, Wien, 2022. Foto © Marija Norazian

Ein anderes Beispiel stellt die Ukrainian Design Tram in Wien dar. Dabei handelt es sich um eine Straßenbahn, deren blau-gelbes Farbenmuster an die ukrainische Nationalflagge angelehnt ist. Die ornamentalen Dreiecke sollen Sonnenblumenkerne symbolisieren und verweisen damit auf eine Pflanze, die häufig als Repräsentant für die ukrainische Nation verwendet wird. Ein QR-Code auf den Türen führt zu einer Seite, die ebenfalls von ukrainischen Künstler:innen und Designer:innen betrieben wird und die ihre Erlöse aus dem Verkauf von Kunstobjekten an den ukrainischen Staat und die Armee weitergeben. In diesem Kontext wies die Künstlerin auch auf die kritische Haltung der Stadtverwaltung zu dem Straßenbahn-Projekt und seine schleppende Umsetzung hin. Man befürchtete seitens der Stadt, die Aktion könnte der Finanzierung von Waffen dienen. Mittlerweile wird Norazians Tramdesign in Vilnius und bald auch in Riga, Brüssel sowie Den Haag umgesetzt werden.

vi.

Die auf der Tagung gehaltenen Vorträge verdeutlichten die Heterogenität von künstlerischen Kommunikationsstrategien im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine. Es zeigte sich, dass die gegenwärtigen Kunstprojekte die Invasion nicht nur thematisieren und kritisieren, sondern zum Teil sogar der Finanzierung des Widerstands und des Wiederaufbaus dienen. Der für die Tagung titelgebende Begriff der Bricolage, der der Terminologie Claude Lévi-Strauss‘ entstammt,[1] war passend gewählt, da die vorgestellten Kunstprojekte das Moment des Bastelns und des Schaffens aus und mit dem gegenwärtig Gegebenen innerhalb der unmittelbaren Umstände unterstreichen. Ob Malerei auf dem Buchdeckel oder ein Repair-Festival zwischen Ruinen, die Projekte verdeutlichen, wie die Künstler:innen die durch Krieg und Zerstörung vorgegebene Situation als Quelle schöpferischen Handelns aufgreifen.

Wiederkehrendes Motiv der Vorträge bildete zum einen die kategorische Unterscheidung von russischer sowie ukrainischer Kunst und Kultur, die aus Sicht der Künstler:innen im Ausland oft fehlt. Eine Differenzierung zwischen russischer Politik und russischer Kunst wurde mehrfach diskutiert, jedoch seien diese beiden Bereiche derzeit sehr schwer zu trennen. Die russische Propaganda vereinnahmt die eigene Kultur so stark, so dass diese zu einem Instrument eines aggressiven Imperialismus umgeformt wird. So wurden etwa gleich nach der Eroberung von Cherson Propagandaplakate mit verschiedenen kanonischen Autor:innen der russischen Literatur in der Stadt aufgehängt, die die Zugehörigkeit der Region zu Russland über Zitate dieser Schriftsteller:innen rechtfertigen sollten. Dem westlichen Publikum ist die Instrumentalisierung der Kultur seitens der russischen Föderation kaum bewusst. Die häufig aufkommende Forderung, die russische Kultur nicht mit Putin’scher Politik gleichzusetzen, ist daher aus westlicher Sicht zwar grundlegend verständlich, bleibt jedoch als pauschale Forderung naiv. Die im Rahmen der Tagung geführte Diskussion zwischen den Künstler:innen und dem Publikum verdeutlichte diesen Umstand der Unwissenheit. In Unkenntnis um die innerrussische Medienlandschaft sei, wie die Künstler in der Abschlussdiskussion festhielten, einem Teil des westlichen Publikums die gegenwärtige politische bzw. imperialistische Kontamination kanonisierter Autor:innen nur schwer bis gar nicht verständlich.

Die Instrumentalisierung von Kunst und Kultur führe laut den Künstler:innen dazu, dass sich die Ukrainer:innen an den sowjetischen Denkmälern von Künstlern und Staatsmännern abreagieren, was die anwesenden Redner:innen eher kritisch beurteilten. Schließlich seien die Denkmäler nicht nur ideologische Statements eines russischen Imperialismus, sondern auch Zeugnisse einer gemeinsamen Geschichte in der UdSSR. Der ukrainische Ikonoklasmus gegen das sowjetische Erbe erscheint vor dem Hintergrund der Aggressionen der Russischen Föderation den Künstler:innen jedoch auch verständlich. Somit handle es sich bei den Denkmälern zwar um künstlerische Artefakte, die man durchaus als erhaltenswert sehen könne, als Teil der Propaganda verkörpern sie jedoch letztlich auch das Zerstörerische des russischen Imperialismus. Die Kunst könne die Strukturen dieser zum Teil noch sowjetischen Propagandatechniken offenlegen, um die Lösung bestehender Probleme zu unterstützen. Aus der Sicht Hussjews biete sich dafür etwa der humorvolle, aber dennoch kritische Umgang mit dem kulturellen Erbe an. Gerade in seiner multikulturellen Heimatstadt Odessa erscheinen einseitige nationalistische Narrative, die Propaganda bedienen, als unangebracht und widersinnig.

Zusammenfassend zeichnete die Tagung Ukrainische Bricolage ein breites Panorama ästhetischer Kommunikationsformen und künstlerischer Techniken im Kontext des Krieges, womit ein höchst aktuelles Thema aufgegriffen wurde. Die Vorträge boten zahlreichen Anlass zur Diskussion und verdeutlichten stellenweise auch einen innerukrainischen Dissens um den Opferstatus einzelner Regionen, der offenbar zwischen Personen aus den besetzten Gebieten im Osten der Ukraine und den restlichen Landesteilen besteht. Die vorhergehende Abendveranstaltung Von der Kunst im Krieg. Künstlerische Strategien im ukrainischen Kommunikationsdesign enthielt im Vergleich dazu kaum Diskussionspotenzial und war in Bezug auf das Kommunikationsdesign der Ukraine in den westlichen Medien nur wenig aufschlussreich. Letztlich hätte in diesem Zusammenhang auch die ideologiekritische Frage aufgeworfen werden können, wo politische Kommunikation endet und Propaganda beginnt. Nicht zuletzt hätte sich dieser Rückgriff auf aktuelle Forschungsergebnisse zum Begriff der Propaganda angeboten, da dieser in neueren Arbeiten recht weit gefasst wird.[2] Unabhängig davon waren die hier skizzierten Beiträge der einzelnen Akteur:innen im Rahmen der Ukrainische Bricolage gewinnbringend und erkenntnisfördernd.

Anmerkungen:

[1] vgl. Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken, 18. Aufl. Frankfurt a. M. 2018, 29f. (zuerst Paris 1962). []

[2] vgl. Benno Nietzel: Die Massen lenken. Propaganda, Experten und Kommunikationsforschung im Zeitalter der Extreme, Berlin/Boston 2022.

 

Editorial Peer Review
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Empfohlene Zitierweise: Philipp Kaysers: „Ukrainische Bricolage. Wie die Kulturszene der Ukraine dazu beiträgt, ihr Land zu verteidigen“, in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2023, S. 1–10. DOI: 10.25598/transitionen-2023-1 <https://transition.hypotheses.org/1170>