„Raus aus dem arroganten Kunstgetto“. Zum Übergang von Kunst zu Aktivismus und sozialem Engagement bei Christoph Schlingensief
Essay von Marcel Bleuler
Der vorliegende Essay basiert auf einem Beitrag zur Ringvorlesung Übergänge zwischen Kunst und Leben am Programmbereich Figurationen des Übergangs der Interuniversitären Einrichtung W&K im Frühjahr 2020. Eingeladen wurde ich, um über Übergänge von Kunst in soziales oder aktivistisches Engagement zu sprechen. Es sollte also um Projekte gehen, die aus dem Kontext von Ausstellungshäusern hinaustreten und direkt in soziale, politische Lebenswelten intervenieren; um eine Kunst, die sich mit gesellschaftlichen Interessen und Praktiken vermischt und nicht eindeutig als Kunst erkennbar ist.
Das Werk des deutschen Regisseurs und Künstlers Christoph Schlingensief bietet sich für diesen Fokus ausdrücklich an. Mit der Idee von Kunst als einem abgegrenzten Bereich hat er mehrfach radikal gebrochen, z.B. mit seinem spektakulären Frontalangriff auf die ÖVP-FPÖ-Koalition in Wien (Bitte liebt Österreich!, öffentliche Kunstaktion, 2000), mit einer TV-Casting-Sendung mit Menschen mit Behinderung in einem Wohnheim bei Berlin (Freakstars 3000, 2002) oder der Entwicklung und Grundsteinlegung eines ganzen Dorfes in Burkina Faso, das sich auf den ersten Blick kaum von einem Projekt der Entwicklungszusammenarbeit unterscheidet (Operndorf Afrika, seit 2010).
Eine solche Involvierung von Kunst in das gesellschaftliche, politische Leben ist durchaus umstritten und ruft nicht selten Skepsis hervor, was sich auch anhand der Kommentare zu meiner Vorlesung zeigte. Ein wiederkehrender Vorbehalt richtet sich auf die „künstlerische Qualität“, die am Einsatz für eine gesellschaftliche Sache leide. Und mehr noch: Kunst verliere ihre ästhetische Autonomie. Durch den Einsatz für eine Sache werde sie instrumentalisiert und zum Vehikel einer Ideologie gemacht, zu Propaganda.
Diese Vorbehalte dienen mir nun, zwei Jahre nach der Vorlesung, als Ausgangspunkt für eine Betrachtung von Schlingensiefs Involvierung in das gesellschaftliche Leben. Obwohl der Künstler vor knapp 12 Jahren verstorben ist, hat seine Arbeit ihre Wirkkraft und auch ihre Streitbarkeit nicht verloren. Dies gerade auch deshalb, weil sie die genannten Vorbehalte hervorbringt, zuweilen sogar zum Thema macht, dabei aber keine Eindeutigkeit propagiert – und dennoch Position bezieht.
Antagonismus statt idyllischer „togetherness“
Die skeptische Haltung gegenüber einer Kunst, die sich in das gesellschaftliche Leben ein- und mit anderen Praktiken vermischt, ist kunsthistorisch durchaus verbürgt. Besonders prominent brachte sie die britische Kunsthistorikerin Claire Bishop in den 2000er-Jahren zum Ausdruck. Angesichts der Zunahme an Kunstprojekten, die außerhalb von Galerien oder Ausstellungshäusern in konkreten sozialen Kontexten entstanden, sprach Bishop mit kritischem Unterton von einem „social turn“. ((Claire Bishop: „The Social Turn: Collaboration and its Discontents“, in: Artforum 44 (2006), S. 94–103, hier S. 183.)) Unter dem Begriff diskutiert sie Projekte, die sich auf aktivistische oder sozial engagierte Weise mit gesellschaftlichen Problemstellungen beschäftigten. Als Beispiel führt sie die Arbeit des türkischen Künstler:innen-Kollektivs Oda Projesi auf, das in einem Wohnviertel in Istanbul mittels kollektiver Aktionen zuvor nicht bestehende soziale Beziehungen zu erzeugen suchte. Wie Bishop kritisch bemerkt, stellte das Kollektive keine ästhetischen Interessen in den Vordergrund. ((Vgl. ebd., S. 180.)) Es grenzte sich auch nicht von sozialer Arbeit ab, sondern realisierte Projekte, die oftmals wie niederschwellige Community-Events mit Bildungsanspruch wirkten. Solchen Projekten rechnet Bishop zwar an, dass sie gesellschaftlich produktiv sein können, zugleich würden sie sich aber kaum noch von Bürger:innen-Initiativen unterscheiden. Anstelle einer kritisch gefestigten Geisteshaltung brächten sie ein naives Gutmenschentum – eine „Christian ‚good Soul‘“ ((Ebd., S. 183.)) – zum Ausdruck.
Bishop fordert Distinktion. Um dies deutlich zu machen, zieht sie die westliche Philosophie und Ästhetik als Beurteilungsrahmen hinzu. Sie bezieht sich auf die deutsche Romantik, auf Jacques Rancières politische Ästhetik, und immer wieder auf das Modell der „radikalen Demokratie“ von Laclau/Mouffe, ((Ernesto Laclau und Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie: Zur Dekonstruktion des Marxismus, Berlin 1991 (zuerst 1985).)) das zuvor bereits von Rosalyn Deutsche (1996) und Miwon Kwon (2002) in ihren Auseinandersetzungen mit Kunst im öffentlichen Raum aufgegriffen worden war. ((Rosalyn Deutsche: Evictions: Art and Spatial Politics, Cambridge 1996; Miwon Kwon: One Place After Another: Site-Specific Art and Locational Identity, Cambridge 2002.)) Aus diesen Referenzen leitet Bishop Ansprüche ab, die sie an eine sozial engagierte Kunst stellt. Insbesondere im Konzept des Antagonismus, das eng mit der radikalen Demokratie verknüpft ist, findet sie ein Kriterium, das ihr zur Beurteilung von sozialer Kunst dient. Dem „feel good“-Effekt von Arbeiten wie jenen von Oda Proiesi stellt sie den Anspruch entgegen, dass Kunst im gesellschaftlichen Leben soziale Spannungen hervortreten zu lassen habe, anstatt die Illusion idyllischer „togetherness“ zu erzeugen: „[…] a democratic society is one in which relations of conflict are sustained, not erased. Without antagonism there is only the imposed consensus of authorian order – a total suppression of debate and discussion.“ ((Claire Bishop: „Antagonism and Relational Aesthetics“, in: October 110 (2004), S. 51–79, hier S. 66.)) Ihr Interesse gilt somit den Arbeiten von Künstler:innen, die soziale Trennungen und die Unausgewogenheit von Machtverhältnissen aufklaffen lassen. Künstler:innen, die inmitten des gesellschaftlichen Lebens eine Spannung zwischen Zuschauer:innen, Teilnehmer:innen und Kontext hervortreten lassen, anstatt über sie hinwegzutäuschen. Das Ausloten einer radikalen Demokratie ist ein zentraler Topos im Zusammenhang mit sozial engagierter Kunst in den 2000er-Jahren, ((Vgl. Marcel Bleuler: „Partizipation in der zeitgenössischen Kunst: Von der postmodernen Condition d’Être hin zu einer Destabilisierung der Kunstwelt“, in: Kultur Produzieren: Künstlerische Praktiken und kritische kulturelle Produktion, hg. v. Elke Zobl, Elisabeth Klaus, Anita Moser (u.a.), Bielefeld 2019, S. 61–75; Grant Kester: The One and the Many: Contemporary Collaborative Art in a Global Context, Durham/London 2011, hier S. 29–36.)) der sich auch in Christoph Schlingensiefs Werk erkennen lässt. So zeigt beispielsweise der Dokumentarfilm Ausländer Raus! Schlingensiefs Container (Regie: Paul Poet, 2002) eindrücklich, wie Schlingensief durch seine Intervention vor der Staatsoper in Wien ein fast schon unüberblickbares gesellschaftliches Konfliktfeld hervortreten ließ. Das knapp einwöchige Projekt bestand aus einer Container-Anlage, in der gut ein Dutzend „Asyl-Antragsteller:innen“ untergebracht wurden. Wie im damals populären TV-Format Big Brother hatte das Publikum die Möglichkeit, täglich eine Person abzuwählen. Diese wurde dann sogleich von einem Sicherheitsdienst abgeholt und zur „Abschiebung“ aus Österreich weggebracht.
Über dem Container prangte ein Transparent, auf dem „Ausländer raus!“ geschrieben stand. Ähnlich fremdenfeindliche Slogans waren auf Plakate gedruckt an verschiedenen Stellen am Container angebracht. Sie alle stammten aus dem Wahlkampf der rechtspopulistischen österreichischen Partei FPÖ, die damals erstmals als Koalitionspartnerin in die Regierung eingebunden worden war. Christoph Schlingensief selbst trat wie ein Moderator auf, der sich vor dem Container auf gewinnende Weise an die Passant:innen richtete und die Aktion anpries. Dabei reproduzierte er die rechtspopulistische Rhetorik der FPÖ derart unverblümt, dass sich eine irritierende Ambiguität zwischen Zynismus und Realität einstellte.
Anders als dem Kollektiv Oda Proiesi ging es Schlingensief mit der Aktion kaum darum, soziale Beziehungen zu stärken, zumindest nicht im Sinne einer Eintracht. Die Aktion, die zuletzt hunderte Menschen anzog, brachte keine konsensorientierte „togetherness“ hervor, da sie schlicht jegliche Eindeutigkeit und damit auch eine Einigkeit verweigerte. Sie ließ natürlich zu, dass man sich dafür oder dagegen positionierte – nur schienen diese Positionierungen immer auch zu kurz zu greifen. Die Aktion war real und zugleich ein Metakommentar. Die Slogans der FPÖ wurden reproduziert und zugleich untergraben. Es handelte sich um eine eindeutig inszenierte Situation, die aber bei den Zuschauer:innen reale Begehren erweckte. Menschen mit rassistischer Haltung fühlten sich frei, ihre Meinung lautstark kundzutun; Linksaktivist:innen hielten dagegen und kletterten auf die Container, um den Slogan „Ausländer raus!“ abzumontieren. Soziales Wohlbefinden ergab sich aus dieser Konstellation nicht. Es kam zu massiven Reibungsflächen, die Schlingensief als Moderator aufgriff und aufrechterhielt.
„Die Hochkultur sprengen“
Aufgrund der Akzentuierung gesellschaftlicher Spannungsverhältnisse scheint Schlingensiefs Werk jenem Kunstdiskurs zu entsprechen, der sich in den 2000er-Jahren im Zusammenhang mit sozialer Kunst und dem Stichwort ‚Antagonismus‘ entspannte. Zugleich zeugen sein Werk und v.a. die 2012 posthum veröffentlichte Textsammlung Ich weiß, ich war’s in einer entscheidenden Dimension von einer Gegenhaltung. ((Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, hg. v. Aino Laberenz, Köln 2012.)) Während z.B. Claire Bishop soziale Kunst vor dem Hintergrund ästhetischer Kriterien beurteilt, die aus der westlichen Kunstgeschichte und einer komplexen intellektuellen Kultur hervorgehen, richtet sich Schlingensief wiederholt gegen ebendiesen elitär-exklusiven Habitus und die damit einhergehende Distinktion. In Schlingensiefs Logik ist dieser Diskurs Teil des „arroganten Kunstgettos“, ((Christoph Schlingensief: Kein falsches Wort jetzt, hg. v. Aino Laberenz, Köln 2020, S. 146.)) das es zu verlassen gelte:
„Man darf nicht denken, dass man im Kunstgetto Sprengmaterial entwickeln kann. Das Sprengmaterial liegt bereits vor, es liegt nur woanders. Und diesem Material muss man sich nähern. Dazu muss man aber sein Getto und einige Abmachungen verlassen, was nicht so leicht ist.“ ((Ebd., S. 146.))
Dieser Aufbruch manifestiert sich in Schlingensiefs Arbeit der frühen 2000er-Jahren zum einen anhand ihrer Verwobenheit mit der TV-Kultur. Schlingensief griff nicht nur Formate auf, wie z.B. die Big Brother-Anleihe in Bitte liebt Österreich!, sondern er produzierte mit U3000 (MTV, 2000) oder Freakstars 3000 (VIVA, 2002) auch direkt fürs Fernsehen.
Zum anderen wurden in seinen Projekten Personen zu tragenden Protagonist:innen, die explizit nicht Teil des ‚Kunstgettos’ waren und die mit Bishops ästhetischen Kriterien so gar nichts zu tun haben, weil sie aus anderen kulturellen Kontexten stammten, keine entsprechende Ausbildung oder schlicht andere Interessen und Bedürfnisse hatten. Ziel dieser sozialen Involvierung kann durchaus gewesen sein, ein antagonistisches Verhältnis hervorzubringen. Dieses richtet sich jedoch immer gegen das, was Schlingensief etwas pauschal die „Hochkultur“ nennt:
„[…] ich hatte ja immer das Gefühl, man muss sie auch sprengen, diese Hochkultur. Nicht zerstören, das meine ich nicht, sondern man muss einfach Leute reinlassen, die damit eigentlich nichts zu tun haben und die da wieder Kraft reingeben.“ ((Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, 2012, S. 166.))
Was unter dieser „Hochkultur“ zu verstehen sei, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Christoph Schlingensief an den Bayreuther Festspielen vier Spielzeiten in Folge die Inszenierung des Parsifal übernahm (2004–2007). Ähnlich wie die TV-Kultur prägte dieser Bezug Schlingensiefs Arbeit bis zu seinem Tod 2010. Zum einen taucht der Stoff, also Parsifal und die germanischen Mythen, in diversen Aspekten seines Werks der 2000er-Jahre auf. Zum anderen scheint sich Schlingensief in der Oper- und der Festspiel-Idee geradezu festgebissen zu haben, wobei sie ihm deutlich als Reibungsfläche diente. Die Oper galt ihm als „Überbegriff für den elitären Glanz der Hochkultur“, ((Ebd., S. 166.)) deren imperialistisch-kolonialistischen Auswüchse er insbesondere im Zusammenhang mit seinen Arbeiten außerhalb von Europa, in Brasilien, Namibia und Burkina Faso in den 2000er-Jahren deutlich hervortreten ließ. Zugleich ging es ihm gerade in diesen Kontexten auch um die Oper als ein Format voller künstlerischem Potential. Dabei handelt es sich im Sinne von Christoph Schlingensief jedoch um ein Potential, das durch die Festigung als „Hochkultur“ nicht hervorgebracht, sondern vielmehr erstickt wurde, sodass die Oper nur noch eine „amputierte Veranstaltung“ sei, „ohne Leben, ohne Improvisationskunst, ohne Spiritualität“ ((Ebd., S. 165.)):
„[…] früher war es so, dass die Oper in den griechischen Theatern verbunden war mit der Genesung der Menschen. Da wurden in Epidauros richtig Rezepte ausgestellt, da gab’s Ärzte, die ihnen Theaterbesuche oder Opernbesuche verschrieben haben. Damals war Kunst und Kultur eben auch zu Heilung da, was wir vollgefressenen, europäischen Kulturkämpfer natürlich völlig verlernt haben. Wir gehen nicht in die Oper, um geheilt zu werden, sondern a) sitzen wir da blöd rum und denken, wo gehe ich denn nachher essen, und b) sind wir sowieso nicht heilbar.“ ((Ebd., S. 165.))
Während Schlingensief mit seinem Engagement in Bayreuth im Herzen der westlichen, exklusiv-elitären „Hochkultur“ agierte, erforschte er in seiner Arbeit zusehends auch die Konfrontation der Oper mit Kontexten, die damit „nichts zu tun haben“. ((Ebd., S. 166.)) Dies führt ihn in ein historisch hoch belastetes Fahrwasser. In Manaus beschäftigte er sich mit dem aus den Zeiten des Kautschukbooms stammenden Teatro Amazonas und der Figur des exzentrischen Kolonialisten Fitzcarraldo. In Namibia beschallte er eine Robben-Herde mit Wagner und besuchte den seit der Zeit der deutschen Kolonialherrschaft verwaisten Ballsaal in Kolmanskop. Die Textsammlung Ich weiß, ich war’s macht deutlich, dass er sich der Problematik dieser Referenzen bewusst war. Zugleich formulierte er eine bestimmte Faszination, die aus der Verschiebung der Oper – respektive des „elitären Glanzes der Hochkultur“ – in Kontexte fernab des „Kunstgettos“ hervorgeht.
„Ich kann […] nicht sofort alles von dem ab- und weglegen, was ich erlebt habe. Zum Beispiel in Manaus: Wie da plötzlich 500 Leute aus den Falvelas in diese Oper reinkommen und trommeln und draußen stehen Tausende Favela-Bewohner rum, die auch noch mitmachen. Das war großartig. Das kann ich nicht vergessen.“ ((Ebd., S. 166.))
Einer solchen Verschiebung und Neubesetzung der „Hochkultur“ widmete sich insbesondere seine Arbeit in Westafrika. Während um 2004 herum internationale Verhandlungen zur Anerkennung des Völkermordes an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika liefen, setzte Schlingensief zur Produktion von The African Twin Towers (2005–2007)an. Der „Tagebuchfilm“ setzt sich aus Aufnahmen von verschiedenen Dreharbeiten und Aktionen zusammen, die zuerst in Fragmenten in unterschiedlichen Kontexten ausgestellt und später als siebzigminütige Filmfassung veröffentlicht wurde. Erzählt wird u.a. die Geschichte des fiktiven Ehepaars Bach, das in Begleitung einer Gruppe exzentrischer Figuren aus Deutschland nach Lüderitz reist, mit dem Plan ein „Bach-Festival“ in Namibia zu initiieren.
Mit seinem karikaturhaften, luxuriös-gönnerhaften Verhalten wirkt das Ehepaar völlig entrückt von der sozialen Realität, in der es sich in Lüderitz bewegt. Die ganze Gruppe, unter der sich auch Schlingensief befindet, scheint komplett von sich selbst eingenommenund zugleich überwältigt von den Townships und der Wüste Namibias. Die Figuren – deren wechselnden Kostümierungen mal einer Wagner-Oper, mal einer New-Age-Bewegung entstammen könnten – erzeugen den Eindruck einer absurd anmutenden Parallelität. Zugleich führt die Intensität ihrer Auftritte auch zu unerwarteten sozialen Verbindungen, zu Tumult, der schließlich eine übergreifende kreative Kraft freisetzt: Der Film mündet in die Darstellung eines Festes, bei dem unzählige Township-Bewohner:innen eine zuvor errichtete skulpturale Plattform einnehmen, auf der sich auch das Ehepaar Bach mit ihren kostümierten Begleiter:innen befinden. Die Aufnahmen zeigen, wie in einer mitreißenden, nicht-choreografierten Dynamik gesungen, getanzt und getrommelt wird. Es sind Aufnahmen, die die Ambiguität auf den Punkt bringen, die dem Projekt eingeschrieben ist: Es geht um eine zwar karikaturhafte aber dennoch deutliche Reproduktion von kolonialistischer Macht und zugleich um den Versuch, damit die „Hochkultur“ zu sprengen. Gerade das abschließende Fest zeigt bildhaft gesprochen auf, dass die elitäre deutsche Klassik (verkörpert durch das Ehepaar Bach) nicht einfach in den Kontext implementiert wird. Vielmehr wird sie dem Kontext ausgeliefert, im Zuge des Aufeinandertreffens zerlegt, verdaut und schließlich neu ausgespuckt.
Gegen einen „Verbrüderungsdiskurs“
Vor dem Hintergrund der mit African Twin Towers angestoßenen Auseinandersetzung ist auch Christoph Schlingensiefs Plan zu verorten, ein „Festspielhaus“ in Westafrika zu errichten. ((Vgl. ebd., S. 164–192.)) Der Plan erscheint folgerichtig: Um die Oper aus ihrer Verkrustung zu befreien, muss er sie fernab des „Kunstgettos“ aufleben lassen, damit sie bereitsteht, um „gesprengt“ und mit „neuer Kraft gefüllt“ zu werden.
Obwohl es Schlingensief dabei gerade nicht um die Durchsetzung der „Hochkultur“ ging, evozierte der Plan eine zutiefst kolonialistische Geisteshaltung – dem westafrikanischen Kontext wurde die Oper als künstlerische Ausdrucksform aufoktroyiert. Seinem Plan schlug daher insbesondere von links-intellektuellen, durch die postkoloniale Theorie sensibilisierten Theaterkreisen, in denen Schlingensiefs Arbeit breit rezipiert wurde, harsche Kritik entgegen. Diese Kritik war einschneidend für Schlingensief, wie seine Schriften bezeugen. Es wird deutlich, dass er angesichts der Ambiguität seiner eigenen Idee geradezu um eine Positionierung rang:
„Das ist wirklich sehr viel, was da gerade alles zu beachten ist. Und für mich eben zu viel. Das tut mir leid, aber ich muss mir leider eingestehen, dass ich hier nichts zu suchen habe. Carl und Anna sagen zwar: ‚Die Kunst darf Dinge ausprobieren’ – und das hilft auch erst mal ein paar Minuten. Aber die Unsicherheit, etwas Falsches zu tun, ist im Moment größer.“ ((Ebd., S. 255.))
In seinen tagebuchartigen Schriften gestand Schlingensief in Bezug auf seine früheren Projekte in Afrika Fehler ein. ((Vgl. ebd., S. 169, 171.)) Trotz seiner Angst, etwas Falsches zu tun, hielt er aber an jener Faszination fest, die sein Erlebnis im Teatro Amazonas in Manaus ausgelöst hatte. Es wird deutlich, dass es ihm mit seiner Involvierung in Westafrika um eine Kraft und Kreativität geht, die er im „Kunstgetto“ Europas nicht mehr finden konnte. Insofern stand für ihn auch keineswegs im Vordergrund, etwas aufzuzwingen, sondern vielmehr Zugang zu einem künstlerischen Nährboden zu finden. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Festspielhaus-Idee formulierte er dann auch zugespitzt: „Wir geben zu, dass wir euch beklauen, weil wir von dem kulturellen und spirituellen Schatz, der da [in Westafrika, Anm.] verborgen ist, lernen wollen.“ ((Ebd., S. 177.))
Schlingensief findet in der Nähe der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou ein Steppengebiet, wo eine Realisierung seines Projekts bewilligt wird. In Zusammenarbeit mit dem burkinischen Architekten Diébédo Francis Kéré wandelt sich sein ursprünglicher Plan jedoch. Anstelle eines einzelnen Festspielhauses planen sie ein Konglomerat an Gebäuden, im Sinne eines Village (franz. Dorf), wie sie die Familien in der umgebenden Steppenlandschaft bewohnen. Im überarbeiteten Plan ist das Festspielhaus flankiert von einer Schule und einer Krankenstation, sowie von Wohnhäusern für Lehrer:innen, Pfleger:innen und Künstler:innen. ((Seit 2010 wird das Operndorf von einem operativen Team vor Ort in Burkina Faso und einem koordinativen Team in Berlin betrieben, die Gesamtleitung liegt bei Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz, vgl. Projektwebsite: https://www.operndorf-afrika.com, Zugriff: 27.2.2022))
Der Alltag im Operndorf ist vom lokal betriebenen Schulbetrieb und der Krankenstation geprägt, zudem gibt es ein Residency-Projekt, das Künstler:innen aus Europa und aus Afrika mehrwöchige Aufenthalte ermöglicht. ((Für eine eingehende Analyse vgl. Marcel Bleuler: „Raum der unüberwindbaren Differenz? Christoph Schlingensiefs Arbeit in Westafrika und das Operndorf-Residency 2016“, in: ENT/GRENZEN. Künstlerische und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Grenzräume, Migration und Ungleichheit, hg. v. ders. und Anita Moser, Bielefeld 2018, S. 171–193.))
Die Entwicklung hin zu einem Operndorf sowie die Zusammenarbeit mit Diébédo Francis Kéré, der in Burkina Faso fest verankert ist, und mit lokalen Ansprechpersonen mögen die Kontroversen um das Projekt etwas entschärft haben. Zugleich eröffnete sich durch die zunehmende Überschneidung mit der internationalen Entwicklungszusammenarbeit für Schlingensief ein neues Konfliktfeld, das ihn erneut zum Ringen um eine Positionierung veranlasste.
Im Zusammenhang mit seiner Theaterproduktion Via Intolleranza II (2010), die wenige Wochen vor seinem Tod uraufgeführt wurde, kommt dieses Ringen deutlich zum Ausdruck. Er entwickelte das Stück in Ouagadougou und Berlin in Zusammenarbeit mit zwölf Schauspieler:innen, Tänzer:innen und Musiker:innen aus Burkina Faso und Westeuropa. Es erzählt von der Begegnung zwischen Europa und Afrika, respektive der „Erkenntnis der Überflüssigkeit der eigenen Interventionen“ sowie der Hoffnung, „endlich die Chance auf eine realistische Begegnung“ zu haben. ((Zitiert aus der offiziellen Projektbeschreibung: https://www.schlingensief.com/projekt.php?id=o003, Zugriff: 23.2.2022.))
Auch Schlingensief selbst trat im Stück auf, nicht zuletzt, um seine Idee des Operndorfes anzupreisen. Es ging jedoch bei weitem nicht einfach um eine Spendenveranstaltung. Via Intolleranza II bringt eine Fülle an faszinierenden Figuren zusammen und führt zugleich deren Unvereinbarkeit vor Augen. Über verschiedene, teils verstörende Szenen hinweg nimmt das Stück die Idee eines gemeinsamen Handelns vor dem Hintergrund des Unterdrückungsverhältnisses zwischen Westeuropa und Westafrika nicht nur ins Visier, sondern verurteilt es geradezu zum Scheitern. Besonders schlecht kommen dabei die westeuropäischen Figuren weg. Gegenüber den burkinischen Protagonist:innen verfallen sie in übergriffige Reaktionen, die von herablassendem Lob bis hin zu sexualisierender Distanzlosigkeit reichen. Drastisch wirkt z.B. die Szene, als sie die ausgeprägten tänzerischen Fähigkeiten eines burkinischen Protagonisten erkennen. Anstatt seine Gelenkigkeit und Ausdrucksstärke anzuerkennen, reagieren sie belehrend und leiten den Burkinabe mit einem Dirigierstab in der Hand dazu an, klassische Ballettposen einzunehmen.
Bezieht man Schlingensiefs Schriften mit ein, dann lässt sich die Szene unschwer als Seitenhieb gegen die „Kulturentwicklungshilfe“ erkennen, zu der er eine entschiedene Gegenposition einnimmt. Worum es sich bei dieser „Kulturentwicklungshilfe“ handelt beschrieb er z.B. anhand seiner Eindrücke der Verfahrensweisen des Goethe Instituts und des Institut français in Ouagadougou. ((Vgl. Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, 2012, S. 256.)) Als er auf der Suche nach Protagonist:innen für Via Intolleranza II war, seien Mitarbeiter:innen mit viel Rat auf ihn zugekommen. Ihre Ratschläge hätten jedoch einzig Hinweise auf burkinische Kunstschaffende beinhaltet, die es bereits auf ein Festival oder eine Ausstellung in Europa geschafft hätten und die damit – so die Implikation – westeuropäischen Standards zu entsprechen vermögen. ((Vgl. ebd., S. 255–256.)) Eine solche Anwendung europäischer Erwartungen auf Burkina Faso – in der sich deutlich die Selbstwahrnehmung als Hochkultur artikuliert – lehnte Schlingensief aufs Schärfste ab. Er bezeichnete sie als „wahnsinnig unangenehm“ und „peinlich“. ((Ebd.)) Via Intolleranza II geht noch einen Schritt weiter: Die Verbindung mit dem westeuropäischen Kontext resultiert im Stück als Gefahr für die burkinischen Protagonist:innen. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn eine von ihnen „an Europa erkrankt“ und kaum mehr gerettet werden kann, schon gar nicht mit westlicher Schulmedizin.
Das konfliktgeladene Bild, das Via Intolleranza II zeichnet, spiegelt jenes Ringen wider, das sich durch Christoph Schlingensiefs Schriften zieht. Ein Ringen, bei dem es nicht nur um die Angst geht, durch seine Involvierung in Westafrika „etwas Falsches zu tun“, sondern auch davor, eine naive Idee von „togetherness“ zu bedienen. Wie Schlingensief im Begleitheft zur DVD Via Intolleranza II zitiert wird, äußerte er mit dem Stück seine Angst, „den verbrüderungsdiskurs ‚weiss trifft schwarz‘“ mitsamt seinen „alten, auch abgegriffenen argumenten und erlebnissen“ weiterzugeben. ((DVD Begleitheft, 2015, o.S.)) Er bezeichnete die Produktion als eine, in der Unverständnis vorherrsche und bei der es wichtig sei, „zu begreifen, dass wir eigentlich gar nicht zusammenpassen“. ((Schlingensief, Ich weiß, ich war’s, 2012, S. 264.))
Das „unscharfe Wesen“ von Kunst
Der Gesellschaftsentwurf in Christoph Schlingensiefs Werk ist deutlich konfliktorientiert. Ganz im Sinne eines radikalen Demokratieverständnisses werden hier Spannungsverhältnisse zum tragenden Element, anstatt dass ein idealisiertes Bild von Einigkeit und Eintracht propagiert würde. Ebenso verhält es sich in Bezug auf das Verhältnis seiner Projekte zu Aktivismus und sozialem Engagement, dem Ausgangsfokus dieses Essays. Einleitend habe ich Schlingensief im Kontext von Kunst verortet, die sich mit gesellschaftlichen Interessen und Praktiken vermischt und nicht eindeutig als Kunst erkennbar ist. Eine solche Vermischung fand in seinen Projekten zwar statt, von einem nahtlosen Übergang kann jedoch nicht die Rede sein. Wenn Schlingensief aus dem institutionalisierten Kunstkontext heraustrat und sich in soziale, politische Lebenswelten involvierte, dann konnten seine Projekte zwar wie Aktivismus oder soziales Engagement wirken, zugleich widersetzen sie sich diesen Bereichen: Sein Container-Projekt exponierte die politische Stimmungsmache, ohne einen eigenen Slogan zu kreieren; mit dem Operndorf drang er in das Feld der internationalen Entwicklungszusammenarbeit vor, stellte aber zugleich die damit verbundenen Institutionen und Vorstellungen grundlegend in Frage.
Ganz im Sinne jenes kritischen Diskurses über soziale Kunst, den ich mit Verweis auf Claire Bishop beschrieben habe, markieren Schlingensiefs Projekte eine Distinktion. Spezifisch ist jedoch, dass er dabei nicht das Ziel verfolgte, Kunst zu privilegieren und ihre Zugehörigkeit zu einem exklusiven gesellschaftlichen Bereich zu betonen. Im Gegenteil: Schlingensief ging es gerade um ein Rückgängigmachen solcher Abgrenzungen, die in seiner Logik zu einer „Amputation“ von Kunst führten und mit Vorherrschaftsideen verbunden seien. Die exklusiv-elitäre „Hochkultur“ resultiert bei ihm als arrogante, übergriffige und marode Macht, die der Kunst die Improvisationskunst und Spiritualität raubte und die es unmöglich gemacht hat, „aus sich selbst heraus etwas zu kreieren.“ ((Ebd., S. 177.)) Als Gegenentwurf dazu suchte er Kontexte zu erschließen respektive zu schaffen, in denen sich „die Seele […] entfalten darf, in ihrer Unschärfe akzeptiert wird und dabei Kräfte mobilisiert.“ ((Ebd., S. 178.))
Die Möglichkeit für eine solche Unschärfe projizierte er vor seinem Tod hauptsächlich auf Westafrika. Hier lokalisierte er eine Kraft und Kreativität, die das „Kunstgetto“ Europas geradezu unterbinde: „[…] leider wird das unscharfe Wesen der Seele bei uns immer wieder in ein Betonkleid gepackt, weil es ja sonst angeblich nicht weitergeht, weil sonst keine Ordnung reinkommt in das Ganze.“ ((Ebd., S. 177f.)) Dem gegenüber glorifizierte er die (vermeintliche) Unberührtheit Westafrikas, wodurch der Eindruck eines zweischneidigen Schwertes zurückbleibt. Zum einen tritt Christoph Schlingensief in seinen Schriften für den Abbau von kulturellen Vorherrschaftsideen und der wertenden Abgrenzung von Kunst gegenüber anderer kreativ-kultureller Praktiken ein, wie sie auch im Rahmen der Dekolonialisierung gefordert wird. ((Vgl. Marcel Bleuler: „Für eine Neuverhandlung zeitgenössischer Kunst in ländlichen Kontexten“, in: Kulturelle Teilhabe in Salzburg. Mehr Zugang, Mitbestimmung und soziale Gerechtigkeit im Feld von Kunst und Kultur, hg. v. ders., Salzburg 2021, URL https://www.p-art-icipate.net/projektnews/fuer-eine-neuverhandlung-zeitgenoessischer-kunst-am-land/, Zugriff: 27.2.2022, S. 1–35, hier S. 24–25.)) Zum anderen basiert Schlingensiefs Involvierung jenseits des westlichen „Kunstgettos“ auf Stereotypisierungen und auf einem Fremd-Machen, wie sie nicht zuletzt Teil einer imperialistisch-kolonialistischen Geisteshaltung sind.
Diese Ambiguität trieb Christoph Schlingensief massiv um. In seinen Texten über das Operndorf ging es um eine Betonung von Differenz und zugleich um die Sehnsucht nach ihrer Überwindung; um das intuitive Verfolgen einer Faszination und die Angst, damit etwas Falsches zu tun; um den Wunsch nach gleichberechtigter Begegnung, flankiert von der Einsicht, dass diese nicht möglich ist. Dieser innere Konflikt, den er auch in seiner Abschlussrede in Via Intolleranza II offen austrug, entkräften in meinen Augen die eingangs erwähnten Vorbehalte gegenüber einer Kunst, die sich gesellschaftlich involviert. Schlingensiefs Projekte propagieren keine Ideologie, sondern sie verhandeln die Reibungsflächen, die aus den weltanschaulichen Dimensionen gesellschaftlichen Handelns entstehen.
Danksagung: Die Bilderauswahl für diesen Text wurde ermöglicht durch die Unterstützung der Filmgalerie 451 in Berlin. Mein herzlicher Dank geht an Viviana Kammel von der Filmgalerie, sowie an die Fotograf:innen Aino Laberenz, David Baltzer, Thomas Aurin für die Erlaubnis, ihre Bilder hier zu verwenden.
Editorial Peer Review
Rechte: CC-BY 4.0
Empfohlene Zitierweise: Marcel Bleuler: „‚Raus aus dem arroganten Kunstgetto‘. Zum Übergang von Kunst zu Aktivismus und sozialem Engagement bei Christoph Schlingensief“ in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2022, S. 1-14. DOI: 10.25598/transitionen-2022-2 <https://transition.hypotheses.org/839>