Massen sterben – landschaftliche, architektonische und materielle Erinnerungen an zwei Weltkriege
Das menschliche Gedächtnis ist kollektiv gebildet – so ein Konsens seit Maurice Halbwachs grundlegender Studie (1939). Bei der Genese, Konstituierung und Transformation des kollektiven Gedächtnisses haben Denkmäler dabei eine widersinnige Funktion inne: Sie werden zumeist anlässlich von politischen und sozialen Konflikten mit der Absicht errichtet, bei ihrer Betrachtung eine Form positiver Identifizierung mit Geschichte zu evozieren. Gleichzeitig haben Denkmäler die Rolle einer „prekären Erinnerungsfunktion“ (Dietrich Erben [1]), weil sie weniger über historische Sachverhalte als vielmehr über die Form der Geschichtsaneignung durch die Initiatoren des Denkmals erzählen. Gerade Denkmäler nehmen eine bedeutende Rolle in der Kultur des Erinnerns wahr, weil der Hergang ihrer Planung und Aufstellung Fragen zum Erinnern, Vergessen und Verschwinden provoziert: Wie kann ein statisches Denkmal für die Nachkommen aktuell und aussagekräftig bleiben? Wie kann ein Denkmal als Erinnerung dienen ohne seine Wirkung zu verlieren? Wie lassen sich unvorstellbare Verbrechen mit künstlerischen Mitteln angemessen darstellen?
Jede Form des Erinnerns geschieht in einer sich verändernden Gegenwart. Solcherart ist ein Denkmal selbst immer auch Ausdruck eines historischen Prozesses. Nach 1945 stellte sich Österreich bekanntlich als kollektives Opfer des nationalsozialistischen Regimes in Deutschland dar und öffnete sich erst seit den 1980er Jahren langsam einer kritischeren Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im NS-Terror. Damit begann ein langer Prozess der Dekonstruktion des Opfermythos, von dem auch die zähen Bemühungen und Verhandlungen zur Einrichtung von Gedenkstätten zeugen (wie etwa jüngst im Fall des erst 2018 realisierten Salzburger Mahnmals an die Bücherverbrennung 1938). Die „Symptomatik“ seiner Geschichtlichkeit also „ist einem Denkmal nicht nur in der Planung, Errichtung und im späteren Umgang mit ihm eingeschrieben, sondern auch in allen Dimensionen seiner materiellen Erscheinung“ (Dietrich Erben [1]).
Aus den Perspektiven von Denkmalpflege und Musikwissenschaft widmete sich die Tagung „Massen sterben – landschaftliche, architektonische und materielle Erinnerungen an zwei Weltkriege“ (21. November 2019) im Atelier des Kunstquartiers Denkmälern zum Ersten und Zweiten Weltkrieg. Im Zentrum des Tagungskonzepts stand die These eines grundlegenden Wandels in der Kultur des Erinnerns seit dem Fall des Eisernen Vorhangs (Sigrid Brandt): Galt die Erinnerungspolitik bis 1989 zentralen Orten nationaler Erinnerung und politischer (zum Teil totalitärer) Instrumentalisierung, würden die Orte des Erinnerns seit 1991 zunehmend aus den nationalen Bezügen gelöst, dezentralisiert jedoch zu Topografien des Erinnerns verknüpft. Die Tagung versuchte ihre These zum Programm zu machen, indem sie Experten zu den Denkmälern an Kriegsschauplätzen (von Kriegstreibern und Opfern) und zum Wandel der jeweiligen Erinnerungskonzepte zur Sprache kommen ließ: vom Umgang mit den Denkmälern der sowjetischen Okkupation in Litauen (Vaidas Petrulis) über die Monumente der Titozeit in Kroatien (Marko Špikić), den faschistischen Denkmälern Südtirols und den Landschaften des Krieges der Dolomiten (Waltraud Kofler-Engl), in Slowenien (Sonja Ifko) und im südböhmischen Grenzgebiet (Hynek Látal) bis zu den „Landschaften des Terrors“ (Johannes Cramer in einem unveröffentlichtes Gutachten, Berlin 2010) in den österreichischen Konzentrationslagern Mauthausen, Gusen und St. Georgen (Paul Mahringer) sowie in Buchenwald, das von der Deutschen Demokratischen Republik als antifaschistischer Erinnerungsort instrumentalisiert wurde und nach 1991 die Neuausrichtung als Erinnerungsort erarbeitete (Philipp Neumann-Thein).
Diese geografische und chronologische Zusammenschau verschiedener Orte des Erinnerns zeigte, dass eine zunehmende Reflexion über die Beziehungen zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtserinnerung – von einer Wahrnehmung vom Denkmal zum Mahnmal – sich zu einer Rhetorik der Versöhnung entwickelt. Die Heroisierungen des Krieges und seine Heldenrhetorik sowie nationale und ideologische Bindungen werden zugunsten von dem Gedenken an die Opfer der Diktaturen und des Krieges sowie Versuchen ethischer, sprachlicher und geschlechtergerechteren Differenzierungen aufgegeben. Dazu zählen etwa transnationale Einrichtungen wie Philippe Prosts Mahnmal der Gefallenen des Ersten Weltkriegs am französischen Nationalfriedhof Notre-Dame-de-Lorette in Ablain-Saint-Nazaire für die französischen und belgischen Kriegstoten (2014) und das deutsch-französische Museum (2017) der Gedenkstätte Hartmannswillerkopf im Elsass für die deutsch-französischen Toten des Ersten Weltkrieges. Die Ablösung durch jüngere Akteure und die Arbeit der Kommissionen von Historikerinnen und Historikern eröffnen in jüngster Zeit alternative Zugänge, die ideologische, nationalistische Erinnerungspolitiken zu ersetzen versprechen: Die Adaption des faschistischen Siegesdenkmals in Bozen (seit 2011) versucht die Geschichtlichkeit des Monuments zwischen den faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen sowie seine politische Inanspruchnahme seit 1945 durch die Kontextualisierung in einem unter dem Denkmal befindlichen Museumsbau Rechnung zu tragen, indem auch die kollektiven Erinnerungen marginaler Gruppen Berücksichtigung finden. Wanderungen entlang von Frontlinien, wie sie in Slowenien angeboten werden ermöglichen es, die Spuren des Krieges als Topografien des Erinnerns zu erleben und Emotionen wie Trauer und Verlust zu thematisieren. Die Gefahr der Relativierung bzw. der „Konkurrenz um die Opferrolle“ (Aleida Assmann [2]) kam dabei nur marginal zur Sprache.
Die Gedenkstätten und ihre Problematik kontrastieren mit den Möglichkeiten der Musik und Aufführungspraxis als Medien von Erinnerungskultur. Musikstücke wie Arnold Schönbergs Melodram über den Niederschlag des Aufstands im Warschauer Getto „A Survivor from Warsaw“ (1947) oder Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ (1965) vermögen ihre Geschichtlichkeit (und Vergänglichkeit) durch eine immer wieder kehrende Reaktivierung in der Aufführung und Rezeption auszugleichen und stets aufs Neue zur Sprache zu bringen (Barbara Dobretsberger). Solcherart, wenn auch mit anderen Motivationen, dienten Herbert von Karajan seine Aufnahmen von Richard Straussʼ Orchesterwerk der Metamorphosen (1945) als Erinnerungen an die verlorene Musikkultur Deutschlands und Österreichs (Matthew Werley). Die Bedeutung der Kontextualisierung für die Erinnerungskultur belegt eine Aufzeichnung der Darbietung von Hans Krásas Kinderoper Brundibár (1938). Die Oper führten 1943 Kinder und Jugendliche im Konzentrationslager Theresienstadt auf. Fast alle wurden sie im Vernichtungslager Ausschwitz ermordet. Zugleich instrumentalisierten die Nationalsozialisten den Propagandafilm über Theresienstadt als Beweis für das kulturelle Leben des scheinbaren Vorzeigelagers (Barbara Dobretsberger). Eine Exkursion in die Gedenkstätten der Konzentrationslager Ebensee und Mauthausen (22. November 2019) versuchte die theoretische Zusammenschau mit der materiellen Ebene zu verbinden.
Romana Sammern
Anmerkungen:
[1] Dietrich Erben: Denkmal, in: Politische Ikonographie. Ein Handbuch, 2 Bde., hg. v. Uwe Fleckner, Martin Warnke und Hendrik Ziegler, München 2011, Bd. 1, S. 235-243, hier S. 235
[2] Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2011, S. 227
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