LUCIFER sehen und lesen. Ein Blatt zu Dantes Inferno ca. 1595

Close Reading von Friederike Wille

Cornelius Galle (I) nach Cigoli: Lucifer, um 1590/1600. Kupferstich, 275 × 200 mm. Amsterdam, Rijksmuseum. Bildnachweis: Public Domain
Cornelius Galle (I) nach Cigoli: Lucifer, um 1590/1600. Kupferstich, 275 × 200 mm. Amsterdam, Rijksmuseum. Bildnachweis: Public Domain

Vor uns liegt ein Kupferstich auf Papier: er misst 27,5 cm in der Höhe und 20 cm in der Breite, ein handlich-mobiles, druckgraphisches Objekt also. Am unteren Rand, innerhalb des von feinen Linien markierten Druckrahmens der Platte, stehen die drei Signaturen der an der Produktion des Blatts Beteiligten: „L.Cigoli Florent. figuravit. Cornelius Galle sculpsit. C.Galle excudit“, entwerfender Florentiner Künstler („figuravit“), Kupferstecher („sculpsit“) und Verleger („excudit“). Das Blatt befindet sich heute im Amsterdamer Rijksmuseum. ((Siehe auch: Manfred Sellink: „Lucifer“, in: Bulletin van het Rijksmuseum 35,2 (1987), S. 91–104.))

Ein geringfügig kleinerer, beschnittener Druck (26,2 cm × 19,3 cm) im British Museum in London trägt am unteren Rand nur die Marke des Verlegers aus Nürnberg: „B. Caimax excudit“.

Der in Florenz und Rom aktive Maler Ludovico Cigoli (1559–1613) hatte um 1595, wohl in Florenz, Zeichnungen als Vorlage für den Stich angefertigt. ((Rote Kreide, Feder in brauner Tinte, blau laviert, 26 × 20 cm, Florenz, Gabinetto Disegni e Stampe degli Uffizi (GDSU 8951 F): vgl.: Michael Brunner: Die Illustrierung von Dantes Divina Commedia in der Zeit der Dante-Debatte (1570–1600), München 1999, S. 306–307. Sowie GDSU 123201 F: braune Tusche, laviert mit den flankierenden Textblättern (blank) seitlich angedeutet, hier auch bereits der Titel LUCIFER). Vgl. Jasmin Mersmann: Ludovico Cigoli. Formen der Wahrheit um 1600, Berlin 2016, S. 90–100.)) Er greift mit seiner Teufelsfigur eine Figuration Giovanni Stradanos von 1588 auf, ((Florenz, GDSU 2739F.)) die wiederum, nicht im Detail, aber in der monumentalen Anlage der Figur des Satans auf Botticellis Zeichnung vom Ende des 15. Jahrhunderts rekurriert. ((Vgl. Hein-Th. Schulze Altcappenberg (Hg.): Sandro Botticelli. Der Bilderzyklus zu Dantes Göttlicher Komödie, Berlin 2000, S. 130 – 131.)) Vermutlich sollten die dann gestochenen Blätter zunächst als eine Art Anschauungsmaterial im Rahmen akademischer Vorlesungen und Debatten über Dante dienen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts waren regelrechte Wort- und Argumentschlachten unter Florentiner Intellektuellen, vornehmlich an den neu gegründeten Sprachakademien, um den Stellenwert von Dantes Dichtung im Allgemeinen und um die konkreten Formen seiner poetisch konstruierten Jenseitsräume im Besonderen ausgetragen worden. Das Londoner Blatt, in Nürnberg gedruckt und verlegt, zeigt, dass Cigolis gestochener Lucifer um 1600 auch überregional reüssierte: ein gleichsam intellektuell eingehegtes und doch ästhetisch eindrücklich neu formuliertes Bild des Teufels Dantescher Lesart, das im Medium des Kupferstichs Verbreitung findet.

In der Art eines Palimpsests wird das eigentliche „Bildnis“ ((Vgl. Daniel Arasse: Bildnisse des Teufels, Berlin 2012.)) im monumentalen Urformat von seitlich abblätternden Papieren, die über das Bild geschoben scheinen, überlagert. Sie versuchen mit ihren Textkommentaren den die Betrachter*innen direkt und bedrohlich adressierenden Lucifer gleichsam zu zähmen: Lucifer scheint situiert in einer berechenbar gewordenen Hölle: Zeichnungen von Grund- und Aufriss des Danteschen Infernos sollen die Orientierung im Höllentrichter erleichtern und Lucifers Position am tiefsten Punkt dieser Geometrie bestimmen helfen. Auf dem rechten Dokument wiederum ruft der lateinische Text die poetisch fiktive Wanderung der beiden Dichter Dante und Vergil durch die, in der Commedia trista conca“ genannte Hölle auf ((„Dantes fingit“ in der Mitte der ersten Zeile und „ab eo (Dante) dicta TRISTA CONCA“ am Anfang der zweiten Zeile.)) und datiert sie markant und präzise durch die fett gedruckte Jahreszahl in der vorletzten Zeile in die Karwoche des Jahres 1300.

Die Figur des riesenhaften Lucifer, isoliert vor dunklem Grund, beherrscht die Komposition. Er blickt mit weit aufgerissenen Augen aus dem Bild. Seine zottige, bekrallte Linke greift in Richtung der Betrachter*innen und öffnet damit den Bildraum nach vorn. Aus seinen Schultern und der Brust wachsen die dramatisch beleuchteten Fledermausflügel, die, wie Dante beschrieb, beständig schlagen und den eisigen Wind erzeugen, der das dicke, transparente Eis am tiefsten Punkt der Hölle erzeugt. ((Inferno 34, 48–52: „Segel auf dem Meer sah ich noch nie so groß, Federn hatten sie nicht, vielmehr waren sie wie bei den Fledermäusen. Und er schüttelte sie so heftig, dass dreifacher Wind davon ausging. Daran lag es, dass der Kozytus völlig gefroren war.“ Prosaübersetzung von Hartmut Köhler: Dante Alighieri, La Commedia, I Inferno, Stuttgart 2010. Auch alle folgenden Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben, von Hartmut Köhler.)) In diesem Eis steckt auch Lucifer selbst. Nur seine Büste mit den Flügeln ragt über dem gefrorenen Kozytus auf: „Der Herrscher des Schmerzensreiches ragte mit der halben Brust aus dem Eis hervor; und eher noch könnte ich mich mit einem Riesen messen, als die Riesen mit seinen Armen: Stell Dir jetzt vor, wie groß das Ganze sein muss, zu dem ein solcher Teil gehört!“ (Inferno 34, 28–33). Das Bild zeichnet nicht die erzählerische Perspektive des Jenseitswanderers nach, sondern kommt gleichsam dessen Aufforderung nach – vedi oggimai (Inferno 34, 32) – und stellt das ganze riesenhafte „Geschöpf, das einmal schön von Ansehen war“, ((Inferno 34, 18: la creatura ch’ebbe il bel sembiante.)) das nun aber im Eis und im Mittelpunkt der Erde feststeckt, vor Augen. Der Spiegel des zugefrorenen Kozytus liegt wie ein scheibenförmiger Ring um Lucifers behaarten Körper. Von der Brust bis zu den Knien steckt er in der transparenten picciola spera (Inferno 34, 116), der in die Fläche des Bildes projizierten, gefrorenen Sphaira, die ihren Namen vom größten aller Sünder, dem Verräter Judas trägt: Giudecca (Inferno 34, 117). In ihr sind die Verdammten, die als Verräter an ihren Wohltätern den Tiefpunkt in Dantes Sündenhierarchie bilden, in unterschiedlichsten Haltungen starr auf immer eingefroren. Judas selbst wird von Lucifer zermalmt, auf ewig. Aus dem Maul ragen nur die Beine dieses schlimmsten aller Verräter.

In der Mitte der durchsichtigen Eiskugel und im genauen Zentrum des gesamten Blattes ist, anstelle des Geschlechts Lucifers, das CENTRUM MUNDI im Oval der Inschrift in Großbuchstaben markiert: Der Dreh- und Angelpunkt des Universums ist auch der des Blattes: centrum ist lesbar, wohingegen mundi auf dem Kopf steht. ((Dante verlegt den Mittelpunkt der Welt vom Omphalos, dem Nabel, nach weiter unten, dorthin „wo Schenkel und Hüfte sich treffen“, Inferno 34, 75–78.)) Um das Bild im Sinne von Dantes Commedia weiter lesen zu können, müsste das Blatt um 180 Grad gedreht werden. Die Klauenfüße Lucifers, wenn wir für einen Moment noch im Kippbild der ersten Ansicht bleiben, ragen in den dunklen Grund einer Felshöhle, der „natural burella“ (Inferno, 34,98), im Innern der südlichen Erdhalbkugel. Lucifer, der so drohend aus dem Bild blickt, steckt unbeweglich im tiefsten Punkt des Universums und gleichzeitig auch in der geometrisierten Ordnung des Bildes fest. Er ist stumm. Und, wie Dante es beschreibt, laufen ihm Tränen aus den Augen. „con sei occhi piangea, e per tre menti gocciava ‘l pianto“ (Inferno 34, 53–54). Erst jetzt erkennt man auch die beiden seitlichen, schmalen und komplett verschatteten Profile des teuflischen Dreikopfs. ((Als pervertiertes Spiegelbild der göttlichen Trinität, zusammengesetzt aus dem ethnischen Material der Ökumene: „oh wie groß war nicht mein Befremden, als ich an seinem Kopf drei Gesichter sah. Eines vorne und das war rot (…) das rechte schien gelblich weiß; das linke glich denen, die dort hausen, wo der Nil herabfließt.“ Inferno 34, 37 – 45.)) Cigoli hat nur das mittlere Antlitz beleuchtet und mit Hörnern versehen. So hat er ein Gesicht Satans, des großen Widersachers, geschaffen ((Vgl. zu Geschichte, Etymologie und Theologie der Namen Satan, Teufel, Lucifer z.B.: Luther Link: Der Teufel. Eine Maske ohne Gesicht, München 1997 oder Kurt Flasch: Der Teufel und seine Engel. Die neue Biographie, München 2015.)) und den Betrachtenden damit ein kommunikatives Gegenüber zu sehen gegeben, das bei Dante so nicht angelegt war.

Wohl auch erst auf einen zweiten Blick erkennt man die beiden Jenseitswanderer aus der Commedia an diesem gigantischen Teufelskörper: Dante und Vergil, beide lorbeerbekrönt als Dichter apostrophiert, sind wiederkehrend als winziges Figurenpaar gezeigt und wie in Traktat-Illustrationen zum besseren Verständnis mit D und V markiert. Die hier im Bild auch das menschliche Maß verkörpernden Figuren aus der Literatur erscheinen diesem exorbitant großen Riesen gleichsam angeheftet: Zuerst direkt vor der Brust Lucifers auf dem zugefrorenen Kozytus: Vergil schultert den ängstlichen Dante. Dann zwängt sich das Paar zwischen Eisfläche und Teufelskörper, um weiter unten schon halb gedreht zu Seiten des centrum mundi ans Fell des Riesen geklammert zu erscheinen. Schließlich, und dazu muss man das Blatt nun drehen und Lucifer auf den Kopf stellen, sieht man, dass Vergil Dante auf dem Felsen abgesetzt hat und beide dann weiter oben, neben den Krallen des Ungeheuers, dort wo Licht auf den Felsen fällt, den Aufstieg zur Oberfläche der südlichen Hemisphäre beginnen. Die Dynamik der ursprünglich sprachlichen Schilderung der dramatischen Reise durch den Erdmittelpunkt am Körper des Teufels erscheint hier übersetzt in die äußerliche Handhabung des physischen Blattes. Auch erst jetzt, in dieser um 180 Grad gedrehten Position des Stichs, kann man den dritten lateinischen Text lesen, der plan im Blatt verankert, nicht abblätternd, die Beschreibung von Lucifers aus dem Eis aufragenden Oberkörper nach Dante präsentiert: zur Authentifizierung des zuvor schon Gesehenen nennt die vierzeilige Inschrift den Namen des Autors und die konkrete Stelle im Werk: „Dante Alegherius, cap 34 Inf. canit videsse…“. „Dante Alighieri singt im 34. Kapitel des Inferno, dass er gesehen hat, wie der 4000 Fuß in die Höhe aufragende Lucifer den Kozytus in der Mitte durchbohrt“ und wie die sechs beständig schlagenden, knorpeligen Fledermausflügel das Land gefrieren lassen, das nach Judas benannt ist. Ausführlich sind die drei Gesichter beschrieben, die am Kamm des Schädels zusammenlaufen und es ist der Hauptsünder Judas benannt, der Kopf voran im Maul des Teufels steckt. Schwarz auf weiß und schattenlos liest man jetzt nach, was in der ersten Ansicht des Blattes, plastisch und raumgreifend figuriert im dramatisch beleuchteten Helldunkel des Blattgrundes, bereits ins Auge gesprungen war.

Der originale, volkssprachliche Text von Dantes poema sacro ist auf dem Blatt im Wortlaut so gut wie nicht präsent. Wie gesehen, wird Dantes Beschreibung des „imperador del doloroso regno“ (Inferno 34, 28), des Herrschers der Hölle, aus dem letzten Gesang des Inferno nur verkürzt und in lateinischer Gelehrtensprache paraphrasiert präsentiert. Nur ein einziges wörtliches Zitat aus der Commedia, die „TRISTA CONCA“ (Inferno 9, 16) ist auf dem rechten sich aufrollenden Blatt in Majuskeln ausgestellt. Links gegenüber am Bildrand, auf dem identisch sich aufrollenden Dokument, wird der poetischen Rede von der „düsteren Mulde“ ((Übers. v. Kurt Flasch: Dante, Commedia. In deutscher Prosaübersetzung, Frankfurt 2011, S. 40.)) ein Klarheit und Überblick suggerierendes Höllendiagramm mit Index entgegengesetzt. Dantes für die Imagination der Lesenden offene Begriff der CONCA ist auf unserem Blatt augenfällig der starren Geometrie von Schnitt und Grundriss des Höllentrichters konfrontiert. Der Architekt und Mathematiker Antonio Manetti aus Florenz, der in der Inschrift figuriert, hatte Ende des 15. Jahrhunderts die Gestalt der Hölle als Trichter zu rekonstruieren und ihre Ausmaße zu berechnen versucht. ((Girolamo Benivieni: Dialogo di Antonio Manetti cittadino fiorentino circa al sito, forma et misure dell’Inferno di Dante Alighieri poeta excellentissimo, Anhang der Giunta-Edition der Commedia, Florenz 1506. Vgl. Henrik Engel: Dantes Inferno. Zur Geschichte der Höllenvermessung und des Höllentrichtermotivs, München 2006, hier S. 75–86.)) Und auch der junge Galileo Galilei will in einer Florentiner Vorlesung 1587, mit dem Arm des Riesen als Maßstab, Dantes Hölle mathematisch exakt erfassen. ((Vgl. Jasmin Mersmann: Ludovico Cigoli. Formen der Wahrheit um 1600, Berlin 2016, im Kapitel Dichtung und Wahrheit. Die Vermessung der Hölle, bes. S. 94–95.)) In diesem Klima entwarf Cigoli unser Blatt. Die Figur des Teufels mit ihren weit aufgerissenen Augen scheint sich allerdings von den angehefteten Kommentaren, Beglaubigungen und Schemata emanzipiert zu haben, ja sich sogar gegen den literarischen Text, der sie geschaffen hat, zu behaupten als zentrale Figur der hybriden Komposition: über die imposante Gestalt ist denn auch hell vor dunklem Grund aufleuchtend das Wort LUCIFER in der Art einer Capitalis monumentalis gesetzt. Dante hatte seinen „Herrscher des Schmerzensreichs“ an keiner Stelle der Commedia Lucifer genannt. Vergil spricht von ihm als „Dis“: „Ecco Dite“ (Inferno 34, 20) stellt er ihn dem Jenseitswanderer vor. Dis ist für Vergil der Name des Gottes der Unterwelt, das lateinische Pendant zum griechischen Pluto. Auch vermo, Wurm, ((„…che ´l mondo fora“ Inferno 34, 108)) nennt ihn die Commedia und „Belzebù“ (Inferno 34, 127), aber nicht Lucifer. ((In den Kommentaren allerdings, etwa im ottimo commento von 1333, wird die Teufelsgestalt bereits als Lucifer bezeichnet, „l’angelo tenebroso Lucifer“, vgl. Dartmouth Dante Project [https://dante.dartmouth.edu], ottimo commento zu Inferno 34, 68–69.)) „Wenn er denn einst so schön war, wie er jetzt hässlich ist, und dennoch gegen seinen Schöpfer die Brauen hochzog, dann muss ja aus ihm alles Böse hervorgegangen sein“ (Inferno 34, 28–30). Dante spielt also neben all den anderen Assoziationen durchaus auch auf den hochmütigen Lucifer an, den vor seinem Fall hellsten und schönsten aller Engel und damit Geschöpf Gottes. Aber individuiert und beim Namen genannt wird er bei Dante explizit nicht. Und, anders als auf dem Stich, auch nicht zur genaueren Betrachtung ausgestellt: Vergil mahnt vielmehr zur Eile: „doch die Nacht steigt wieder herauf, es ist nunmehr Zeit, dass wir weggehen, wir haben ja alles gesehen“ (Inferno 34, 68–69). Der dauerhaft und sichtbar in schwarz und weiß und allen Schattierungen dazwischen argumentierende Kupferstich hingegen, stellt knappe 300 Jahre nach Dantes literarischem Entwurf Lucifer gut beleuchtet zur eingehenden Betrachtung aus. Er legt ihn wörtlich in die Hände von Betrachter*innen, die Lucifer nun gestochen scharf sehen, die aber auch die sprachlichen Glossen lesen können, indem sie das Blatt immer wieder drehen und somit um den Mittelpunkt der Erde kreisen.

Die Teufelsgestalt auf unserem Blatt setzt auf Überwältigung und Affizierung der Betrachter*innen, die sich von ihr direkt, im Blick und durch die Geste, adressiert sehen: das personifizierte Böse als veritables, nahsichtiges Gegenüber. ((Bei Dante ist das ganz anders beschrieben und so auch z.B. von Botticelli dargestellt: Satan ist vollkommen mit dem Zermalmen der drei schlimmsten Verräter der Weltgeschichte, Brutus, Cassius und Judas, beschäftigt, eine introvertierte Maschinerie des ewigen Bestrafens. Er nimmt keine Notiz von Dante und Vergil.)) Dies bedarf zunächst weder einer Vermittlung durch Texte, noch der Filterung durch die Person des Dichters. Unter den Text- und Kommentarschichten, unter dem nacherzählten Plot der Geschichte und mathematischen Beschreibungen, kommt also das nahezu Inkommensurable selbst als Bild zum Vorschein und lässt Schriftdokumente, die Zahlen und Daten nennen, gleichsam sich aufrollen und abblättern. Und doch figuriert Lucifer nur als Geschöpf und Gegenstand von Texten auf einem Blatt in der Größe einer Buchseite: Dante fingit, Dante canit, Manetti descripsit. ((Vgl. die Inschriften des Blatts.)) Das ist der Rahmen, in dem der papierne Lucifer seinen Auftritt hat, trotz seiner ästhetisch reich orchestrierten visuellen Präsenz.

Um 1600 endet eine erste fulminante Bildgeschichte der Commedia. ((Vgl. Friederike Wille: „Dante in der bildenden Kunst“, in: Dante. Ein offenes Buch, Ausst.-Kat. Weimar, hg. v. Edoardo Costadura u. Karl Ph. Ellerbrock, Berlin, München 2015, S. 59–73. Gleichzeitig beginnt mit dem späten 16. Jahrhundert eine andere Geschichte des Teufels: er wird „zu einer zentralen diskursiven Größe“ in Teufelsbüchern, Hexen- und Dämonenschriften, vgl. dazu (und zum Teufelsbündner Dr. Johann Faustus) Christian Kiening: Erfahrungen der Zeit 1350–1600, Göttingen 2022, insbes. das Kapitel Teuflische Zeit, S. 237–248.)) Das Blatt zieht noch einmal Text, Kommentar und Bild zusammen. Es thematisiert Maßstäblichkeiten und Relationen, auch der Rezeption, indem es oszilliert zwischen protowissenschaftlicher Aneignung, literarischer Paraphrase und visueller Anschauung eines eigentlich Unschaubaren. Eine eigene Art von Evidenz entsteht zwischen dem Sichtbaren und Sagbaren in dieser komplexen Komposition, die Lucifer sehen und erlesen lässt.

Inschriften:

Unten:

„Dantes Aligerius cap. 34. Inf. canit vidisse se Luciferum longitudine pedum 4000. medium perforantem Cocytum. Sunt autem sex eius alae instar vespertilionis catilagieae triplici vento congelatae: três vero unius capitis fácies horrenda sub cristã iunguntur. dextra earum lutea; laeva aethiopis instar prorsus nigra; media, quae et anterior, rubicunda est. singula capita proditorem dentibus ut aridum linum disrampunt. Iudas Iscariotes capite inverso unguibus insuper dilaniatur: a quo infima Cocyti glacies sphaerica nuncupatut Iudecca: quo in loco suoram proditores dominoram defixi torquentur.“

Rechts:

„Damnatos ob admissa per incontinentiam fingit Dantes in superiori eaque dimidia inferae vallis parte: ab eo dicta TRISTA CONCA. Damnatos autem ob admissa per pravitatem et feritatem, in infima inferorum parte, quam urbem Ditis appellat. Sed poêtis ad Luciferum venientibus, Virgilius Dantem sibi brachiis collo innexis a tergo adhaerentem humeris tulit; perque costarum villos, usque ad medium Luciferum (ubi est centrum mundi) cum eo descendit: turn capitibus, ubi Poetaram pedes erant, circinando et inter vellera prorependo locatis, per femoris pilos cum eodem Dante ascendens in oppositum nobis Haemispherium ad Luceferi crara Dantem adduxit sub Occasum isthic, nobis sub ortum Solis. A feria 2. maioris hebdom. an. sal. 1300. cum dies 7. huic itineri impendisset, ipso Paschatis die se in caelum pervenisse Dantes confinxit“

Links:

„Sciographia et Ichnographia dimidiae urbis Ditis, prout è Dantis poëmate descripsit Ant. Manettius Florent. A. Circus v. irae, styx palus. Β. Moenia urbis igne candentia. C. Circus vi. Haereseos et coemiterium pomoerii. D. Circus vii. violentia in tres gyros distinctus. E. Circus viii, fraudis in X bulgias. F. Circus ix. proditionis Cocytus in 4. sphaeras glaciei circa centram mundi. G. Gigantum puteus. H. Flegia navicula. I. Minotauras. K. Turris Eumenidum. L. Porta urbis Ditis. M. Geryon poetas per aërem humeris ferens.”

Editorial Peer Review
Rechte: CC-BY 4.0

Empfohlene Zitierweise: Friederike Wille: „LUCIFER lesen und sehen. Ein Blatt zu Dantes Inferno ca. 1595“, in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2022, S. 18. DOI: 10.25598/transitionen-2022-3 <https://transition.hypotheses.org/929>