Elfriede Jelinek – eine Ästhetik der Übergänge. Britta Kallin und Silke Felber über Elfriede Jelineks Werk, Claus Philipp und Gabriele Jutz zum Film „Die Kinder der Toten“

Der Wald ist „klassischer Morast“ (Heine): Was für die Grimm‘schen Märchen der Deutsche Wald, ist für das österreichische Horrorgenre seit Andreas Prochaskas In drei Tagen bist du tot 1 (2006) und 2 (2008) der Wald österreichischer Mittelgebirge. Elfriede Jelineks Werk verbindet beides und führt uns dabei zur griechischen Tragödie hin bzw. zurück – das lässt sich aus dem Workshop Elfriede Jelinek – eine Ästhetik der Übergänge schließen, den die Jelinek-Spezialistinnen und Literaturwissenschaftlerinnen Uta Degner und Christa Gürtler von der Universität Salzburg am 17.1.2020 im Atelier des Kunstquartiers und in DAS KINO in Salzburg veranstaltet haben. Unter der Leitfrage, inwieweit das Übergängige generell typisch für die Ästhetik Jelineks sei, fragten die Literaturwissenschaftlerin Britta Kallin (Atlanta, Georgia) und die Theaterwissenschaftlerin Silke Felber (Wien) im ersten Teil des Abends jeweils von ihren unterschiedlichen Perspektiven aus nach den hypertextuellen Überlagerungen und Überschreibungen in Jelineks Theatertexten, die von der Schriftstellerin selbst „Parasitärdrama“ genannt wurden.

Britta Kallin verfolgte Märchenfiguren vom Grimmschen Kanon über die amerikanische Populärkultur zu Jelineks feministischen Adaptionen in den sog. „Prinzessinnendramen“ Der Tod und das Mädchen I-V. Jelinek schreibt passive Frauenfiguren wie Dornröschen oder Schneewittchen um und bringt sie zum Sprechen. Sie können als Übergangsfiguren gelten, weil Jelinek die mit dem Grimmschen Kanon verbundenen genretypischen heteronormativen Rollenzuschreibungen umpositioniert. In der Diskussion zum Vortrag kam etwa die Frage nach Jelineks Schriften im Verhältnis zu anderen hochliterarischen Märchenbearbeitungen wie jenen von Robert Walser auf. Außerdem wurde die Intentionalität der Umschreibungen von „archetypischen“ Märchenfiguren in Jelineks Werk in Frage gestellt und stattdessen in der Auseinandersetzung der Schriftstellerin mit der schwarzen Romantik und Mythenbildung überhaupt verortet.

Silke Felber analysierte in ihrem Vortrag Figuren des Transitorischen in Jelineks Theatertexten wie Die Schutzbefohlenen (2013) oder Schnee Weiß (Die Erfindung der alten Leier) (2019), einer literarischen Bearbeitung von Nicola Werdeniggs Enthüllungen zum sexuellen Missbrauch im Skisport. Jelinek nimmt in der Online-Version des Textes von Schnee Weiß auf Beispiele der visuellen Kultur wie die berühmte, im 4. vorchristlichen Jahrhundert entstandene Pronomos-Vase im Museo Archeologico Nazionale von Neapel Bezug. Die auf der Vase dargestellten Satyrspiele dienen Jelinek als Folie, vor der sie, Mythos und Tragödie, Vase und Bühnensatyr verknüpfend, die misogyne Kultur entlarvt. Dagegen nimmt Die Schutzbefohlenen (2013) in Titel und Text deutlich auf die älteste überlieferte Tragödie, die Schutzflehenden des Aischylos Bezug. Aischylos gilt als Erfinder der Tetralogie aus drei Tragödien, die in einem heiteren Satyrspiel ausklingt. Damit ist bereits bei den antiken Dichtern auch ein transitorisches Element zwischen Tragödie und Komödie angelegt. Jelinek „mäandert paronomastisch vom Satyr zur Satire“ (Degner), durchquert die Gattungen und verwehrt sich Zuweisungen, steht dabei aber immer deutlich für eine Position ein: „Das Parasitärdrama ist tatsächlich nicht ohne seinen Wirt, das Ereignis, den Zustand, die Katastrophe“ (Jelinek [1]). Das Stück Die Schutzbefohlenen ist ein Kommentar zur Flüchtlingspolitik, indem es in einer „Archäologie des Asylwesens“ Figuren und Figurationen von Flucht und Schutzsuche als „Bedrohungsfigurationen“ in einer „transitorischen Zone des Übergangs“ entwirft. Anders als die Danaiden, deren Flucht ein glückliches Ende nimmt, erscheinen hier die Flüchtlinge als lebendige Tote, die sich in einer „transitorischen Zone des Übergangs“ wiederfinden (Felber).

Der zweite Teil des Abends galt der Vorführung und Diskussion der Verfilmung von Jelineks Opus magnum Die Kinder der Toten (1995) durch das Nature Theater of Oklahoma (2018). Im Stil eines Stummfilms kombiniert Die Kinder der Toten Heimat- und Horror- bzw. Zombiefilm. Ulrich Seidl produzierte ihn in Zusammenarbeit mit dem steirischen herbst 2017 mit Laiendarstellerinnen und Laiendarstellern. Bei der Uraufführung 2019 bei der Berlinale wurde er mit dem Preis des internationalen Verbands der Filmkritik (FIPRESCI) ausgezeichnet, kürzlich die Musik mit dem Österreichischen Filmpreis. Nach der Filmvorführung kontextualisierten der Wiener Publizist und Dramaturg Claus Philipp und die Wiener Film- und Medientheoretikerin Gabriele Jutz den Film im Rahmen eines Podiumsgesprächs. Jutz führte in die Medientechnik und Theorie des Films ein, so zum Beispiel mit Erläuterungen zur Super-8-Filmtechnik, die seit den 1960er Jahren als das Schmalfilmformat für den privaten Gebrauch bekannt wurde, deshalb amateurhaft wirkt und nicht zuletzt auch aus diesem Grund von den Avantgarden genutzt wurde.

Philipp war als Dramaturg an der künstlerischen Idee, Konzeption und Herstellung beteiligt. Er berichtete von der Ideenfindung, dem Casting und der Arbeit mit den Laien-Darstellerinnen und Darstellern während der Dreharbeiten sowie von der Verbindung des Produktionsteams zur Region und ihren Bewohnerinnen und Bewohnern – unter anderem im Zuge einer 144-stündigen öffentlichen Lesung des Romans. Kelly Copper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma haben Jelineks Die Kinder der Toten – auch mangels einer englischen Übersetzung – nicht selbst gelesen, sondern sie ließen sich die 666 Seiten vorlesen, erzählen bzw. zusammenfassend ins Englische übersetzen. Der Entstehungsprozess war von Anfang an ein transitorischer zwischen den Texten (Jelineks, dem künstlerischen Drehbuch-Team um Claus Philipp, Kelly Copper und Pavol Liska), den Sprachen (Englisch, Deutsch, den regionalen Dialekten) wie den Orten (im Mürzer Oberland, Graz, Wien, New York).

Ausgangspunkt des Projekts war wiederum der Wald bzw. die Mittelgebirgslandschaft der Obersteiermark, in der die Holzindustrie eine historisch bedeutsame Rolle innehat [2]. Sie ist der Schauplatz von Jelineks Roman und Dreh- und Handlungsort des Films. Anders als im klassischen Zombiefilm sind die Untoten hier keine Gefahr von außen, die die Menschheit auszulöschen droht. Die Untoten sind immer schon da. Sie erodieren die Landschaft und verursachen die riesige Mure, die bei Jelinek das Tal verschüttet. Im Film lassen sie die Illusion der Leinwand in einer zentralen Szene des Films in Flammen aufgehen und wanken durch dieses entstehende Loch durch die vierte Wand in einen Kinosaal, um sich zum Finale hin in einer Blaskapellen-Parade zu einem Aufmarsch des österreichischen Geschichtsbildes zu formieren: Untote in Hakenkreuzuniform neben Kaiser Franz Josef und Sissi, mit Judenstern versehene Zombies neben Mozartzopf-Figuren und verunglückten Rennfahrern, die Palatschinken wie Masken auf ihren Gesichtern tragen. In ihrer ruckelnden Stumpfsinnigkeit bewegen sich untote Figuren gern an der Grenze zum Humoristischen. Anders als das Satyrspiel der Tragödie erlösen die satirischen Momente von Die Kinder der Toten die Zuschauerinnen und Zuschauer aber nicht. Das Grauen kommt aus den verdrängten und unzulänglich aufgearbeiteten Traumata, die sich in das kollektive Gedächtnis wie in die Landschaft eingeschrieben haben und die das Nature Theater of Oklahoma in Gestalt untoter Gespenster aufmarschieren lässt.

Romana Sammern, Februar 2020

Anmerkungen:
[1] Elfriede Jelinek: Das Parasitärdrama, 12.5.2011: https://www.elfriedejelinek.com/fparasitaer.htm, aufgerufen am 17.1.2020
[2] Es wurde für uns zur Prämisse, dass dieser Film unser Leben retten muss. Interview Karin Schiefers mit Claus Philipp, Dezember 2018 (https://www.austrianfilms.com/news/bodyes_wurde_fuer_uns_zur_praemisse_dass_dieser_film_unser_leben_retten_mussbody, aufgerufen am 17.1.2020)

 

Weiterführende Informationen:
Texte von Elfriede Jelinek: https://www.elfriedejelinek.com
Elfriede Jelinek-Forschungszentrum: http://www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com
Nature Theater of Oklahoma: http://www.oktheater.org

Foto: Die Kinder der Toten © Ulrich Seidl Filmproduktion

Die Kinder der Toten © Ulrich Seidl Filmproduktion