Die expressive Praxis der Soziologie und die extensive Theorie der Gesellschaft

Essay von Raffael Hiden

Ungeachtet ihrer Relevanz und Wichtigkeit, das werden wir sehen, gehört die Selbstbefragung nicht per se zum Brotgeschäft des akademischen Alltags. Die Problematisierung der eigenen Arbeitsweise nimmt abseits des Lehrbuchs (und dort unter anderen Vor- und Fragezeichen), das seiner Beliebtheit zuweilen aus einem Gemengelage verlegerischer Interessen und curricularer Finessen verdankt, nur eine äußerst marginale Rolle in wissenschaftlichen Lebenswelten ein. Auch ein gewisser, elaborierter Erfahrungsschatz scheint sowohl für das Fragestellen an sich als auch für dessen Legitimation nötig zu sein. So formulieren beispielsweise Gilles Deleuze und Félix Guattari „erst spät, […] wenn das Alter naht und die Stunde [dringlich], um konkret zu werden“, die Frage, was denn Philosophie sei, diese für beide lebensprägende Wissensform: „Was war das denn nun, was ich während meines ganzen Lebens gemacht habe?“ ((Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? Aus dem Französischen von Bernhard Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 2000, S. 5.))

Das Aufwerfen der Frage fordert einerseits die Reflexion der eigenen Praxis ein – eine Art Rückschau; andererseits geht diese wiederum einher mit einer Selbstvergewisserung, die notwendigerweise begleitet ist von einer subjektiven Stellungnahme, einer Bilanz, die auch vom Selbst, nicht nur von der Sache spricht und insofern eingebettet ist in ein Gefüge. Das von Francis Bacon exemplarische Postulat ‚Von uns selber aber schweigen wir‘ gerät dadurch ins Wanken, und somit gleichzeitig die Bausteine des modernen Wissenschaftsverständnisses, für das dieses wohl paradigmatische Bedeutung besitzt. Noch Kant übernimmt den Primat der Sache und stellt diesen programmatischen Leitspruch der zweiten Auflage seiner Kritik der reinen Vernunft voran, ohne dann in der Folge zum ‚Ding an sich‘ vorzudringen. Das ist wahrlich eine andere Geschichte, doch festzuhalten bleibt, dass die Trennung von Sache und Person einem normativen Anspruch genügen will, der auf forschungspragmatischer Ebene allerdings nicht aufrechtzuerhalten ist. Gerade der Blick auf die Soziologiegeschichte zeigt auf, dass die Positionierung in der disziplinären Matrix stets verwoben ist mit Formen der Selbsterzählung und einer damit einhergehenden Tendenz der sorgsamen Rücksichtnahme des Persönlichen im Gefolge der jeweiligen soziologischen Ambitionen. ((Vgl. Martin Kohli: „‚Von uns selber schweigen wir‘. Wissenschaftsgeschichte aus Lebensgeschichten“, in: Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin, hg. v. Wolf Lepenies, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1981, S. 428–457.))

‚Von uns selber sprechen wir‘, müsste die soziologiegeschichtlich geschulte Korrektur dann lauten, die sich daran abarbeitet, die Kontinuität der Selbsterzählung als Gattung im historischen Gewordensein der Sozial- und Kulturwissenschaften zu profilieren. Besonders lehrreich erweist sich dafür zum Beispiel die Lektüre der Schriften von Norbert Elias. Insbesondere seine Notizen zum Lebenslauf ((Norbert Elias: Über sich selbst, Frankfurt a. M. 1996, S. 107–198.)) zeichnen ein Bild der von Elias als Menschenwissenschaft ausgewiesenen Soziologie, in der stets auch ethische, und das bedeutet in letzter Instanz subjektiv-persönliche, Implikationen eine entscheidende Rolle spielen. Über seine eigene Biografie hinausreichend, erkannte Elias auch einen überaus bedeutsamen und meines Erachtens bis dato vernachlässigten Aspekt in der sogenannten Gründerzeit der Soziologie als akademisches Fach. Nicht die Absolvierung des Studienfachs Soziologie boten die idealen Bedingungen für die Versicherung, „ein guter Soziologe zu werden“, geradezu ein „falsch verstandenes Berufsethos“ würde daraus abgeleitet werden – vielmehr gehe es um die persönliche Entscheidung, Soziologie betreiben zu wollen; geradezu bereichernd erweisen sich dafür Impulse aus Jurisprudenz, Staatswissenschaft, Nationalökonomie ebenso wie aus Philosophie und Geschichtswissenschaft, und noch vieles mehr. So „war Max Weber nicht Soziologe aufgrund seines Studiums, sondern aufgrund seiner Wahl.“ ((Ebd. 107ff.)) Auch die vorsoziologische Phase konfiguriert die Hinwendung zur Soziologie, denn letztendlich wurde die Entfaltung der soziologischen Leidenschaft gerade in dieser Formation maßgeblich geprägt über Umwege der autodidaktischen Aneignung und dadurch möglich werdender neuer Denkansätze – und all dieser Aufwand für die Konsolidierung und Verfeinerung soziologischer Fragestellungen, um im Dienste der Soziologie weiterzukommen.

Allgemeiner betrachtet und weniger auf den engeren Bereich der Soziologie zugeschnitten, könnte man sich aber auch am späten Foucault orientieren und von einer ‚Sorge um sich‘ ((Vgl. Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007.)) sprechen, die um sich greift, wenn durch das Reflektieren das eigene Tun selbst von dessen Wahrnehmung und Sortierung scheidet. Das Fragen hat dadurch zumindest zwei bedeutsame Effekte: 1.) Irgendwann setzt der Zeitpunkt ein, an dem die Innensicht, der subjektive Blick auf das eigene Tun, umhüllt wird von der Frage ‚Was ist das eigentlich, was ich tue bzw. getan habe‘? 2.) Daraus formiert sich eine Konstellation, die unweigerlich das Biografische hereinholt in den Zusammenhang einer Lebensform und dadurch vor Augen führt, dass eine Trennung von Arbeits- und Lebensweise auch im institutionalisierten Intellektuellenmilieu vollends aufgeht. Die sozioautobiographischen Tendenzen (von Didier Eribon über Annie Ernaux zu Marion Messina, von Steffen Mau über Boy Bjerg bis Deniz Ohde und so weiter und so fort) an den Übergängen zwischen aktuellen Sozialwissenschaften und Gegenwartsliteratur scheint diesem zwar unbeabsichtigt Abhilfe zu schaffen; um aber der bloßen Konstatierung eines neuen turns zu entgehen, ist allerdings deren gesellschafts- und gattungstheoretische Einbettung dringend angeraten. Die Einordnung der sozioautobiographischen Erfolgs,- genauer Rezeptionserfolgsgeschichte wird nur im Gefolge einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie deutlich. Diese erinnert dann gleichzeitig an die frühe Konsolidierungsphase der Soziologie, in der das Soziologische sich formierte als permanenter Übergang von Wissensformen und Erkenntnispraktiken: Erst im Dialog, nur durch den Austausch konnte sich die Soziologie begründen.

Diese These zu plausibilisieren ist das erste Anliegen dieses Essays, das zweite ist es, Konsequenzen aufzuzeigen, die sich aus diesem Kontext für die Bewertung gegenwartssoziologischer Tendenzen mit Zukunftsansprüchen ableiten lassen.

Soziologie ist eine Praxis, eine expressive Praxis

Im gegenwärtigen Wissenschaftssystem verflüchtigt sich die theoretische Selbstverortung von Disziplinen hinter einer immer weiter um sich greifenden Sakralisierung der Methode; ((Siehe hierzu auch Gernot Böhmes wertvolle Einsicht für das aktuelle Wissenschaftssystem: „Der Status eines Wissenstyps als Wissenschaft wird […] nicht mehr durch eine philosophische Begründung legitimiert, sondern vielmehr durch methodisches Vorgehen.“ Gernot Böhme: Einführung in die Philosophie. Weltweisheit – Lebensform – Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1994, S. 11.)) – dieser Logik zufolge rechtfertigt die Methode und ihre adäquate Anwendung den Status von Disziplinen, die zwar unterschiedlichen Regeln unterliegen bzw. die diese sich selbst auferlegen, aber das methodische Vorgehen an sich ist sphärenübergreifend der kleinste gemeinsame Nenner im Orchester (spät-)moderner Wissenschaften: Die erste Geige darin spielt eine Methodenversessenheit, die in Allianz mit einer Gegenwartsfokussierung, das Panorama des zeitgenössischen Denkens abdecken. Das Publikum gefällt sich dabei im Zuschauen und genießt die Vorzüge des raschen Selbstversuchs. Man kann sich schnell ausprobieren, die Methode ist da, sie wartet nur darauf eingesetzt zu werden. Anything goes ist vorbei, das Zeitalter des everyone can bricht an. Das Publikum fungiert hier im metaphorischen Sinne. Damit gemeint ist das rasche Ausprobieren von bewährten und sich ständig weiter bewährenden Methoden, die als neue Gütekriterien und die Mittel der akademischen Beweisführung oftmals den Weg zum eigentlichen Gegenstand des Interesses verstellen. Folgt man dem Erkenntnisinteresse, folgt man den zur Verfügung stehenden Methoden, der Weg wird dadurch direkt und indirekt zugleich. Im Resultat überstrahlt daher oft der methodische Zugriff auf den Gegenstand den intendierten Gegenstand. Um der Verwechslung von Methode mit Gegenstand entgegenzusteuern, ist die eigene Situiertheit und Involviertheit in diesem ganzen Prozess zu berücksichtigen. Und auch die dadurch mitschwingende Frage nach dem Interesse: Was will ich denn wissen?, hier eben noch vor dem: Wie erlange ich dieses Wissen? Wer, um etwas zu wissen, stets auf das zurückgreift, was da ist, wird Wissen, Erkenntnis, Erfahrung nur reproduzieren, und nichts Neues finden – das gilt sowohl für die Sache als auch für die Person.

Um diese Tendenzen anschaulich zu machen, lohnt ein Blick auf diskursbestimmende Theoriemoden: Geradezu einen Paradigmenwechsel in den sozial- und kulturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern eingeleitet hat die sogenannte Praxistheorie, deren Aufkommen, Modulierung und Profilierung somit ein Fallbeispiel par excellence für solch einen Trend darbietet. Ohne klare Kernschrift und ohne eindeutig festzumachende Schule hat die Praxistheorie trotzdem eines der attraktivsten Forschungsprogramme der Gegenwart formiert, das auch besonders bei jüngeren Wissenschafter:innen hohes Ansehen erfährt. Die Programmatik der Praxeologie steckt in ihrer methodischen Finesse, das heißt in ihrer überaus bunten Anwendungspalette und alltagsnahen Anschlussfähigkeit in der Analyse vielfältiger soziale Phänomene. Auch wenn die dabei eingesetzten Methodensets äußerst divers sind, von unterschiedlichen disziplinären und interdisziplinären Konstellationen bespielt werden, erweisen sich sozialwissenschaftliche Moden zuweilen als merkwürdige Verkehrung ihrer Entstehungs- und Begründungszusammenhänge: Im Falle der praxissoziologischen Genealogie und Dynamik hat der genuin aus einem theoretischen Anspruch heraus sich vermittelnde Stil eine methodische Kanonisierung zur Folge. Selbstverständlich hat Pierre Bourdieu mit seinen Mitstreiter:innen die feinen Unterschiede auch durch einen Methodenpluralismus par excellence empirisch gesättigt, doch bleibt dabei doch im Kern der Anspruch nach einer Kritik herkömmlicher Handlungstheorie bzw. einer handlungstheoretischen Erweiterung bestehen, der eben mit der Praxis der Reproduktion und über die somatische Akzentuierung des Tuns (Habitus) entgegenzuwirken versucht wurde. Bei Judith Butlers an Jacques Derrida geschultem Resignifikationsmodell übernimmt das Theoretisieren die Überhand und bietet die Ermöglichungsbedingungen für daran anschließende empirische Erkundungen. Überspitzt formuliert, sind die Kontroversen über die Ambitionen der Praxeologie im theoretischen Anspruch angelegt, die durch die methodische Vereinheitlichung geglättet werden.

Allerdings soll hier nicht die praxeologische Methodologie und Heuristik nachgezeichnet werden, sondern vielmehr deren Erfolgsgeschichte als Ausdruck spätmoderner Subjektivierungs- und Lebensformen interpretiert werden. Jedenfalls meine ich, dass im symbolischen Kapital der Praxistheorie weniger ein Analysepotential als vielmehr ein expressives Ausdrucksmittel von Gegenwartsgesellschaften nachzuweisen ist: Praxeologie ist selbst eine Praxis und eine Praxis ist etwas, womit etwas ausgedrückt wird. Ganz im Sinne praxeologischer Basisprämissen, stellen Praxisformen nämlich nicht nur etwas her, sondern gleichzeitig auch immer etwas dar.

Die praxeologische Wende hat ohne Zweifel wertvolle Errungenschaften für das Verständlichmachen gegenwärtiger Problemfelder bereitgestellt, auch (notwendige) elaborierte Erweiterungen im Theoriediskurs vorgenommen, doch verkürzt eine Version der Wirkungsgeschichte ihre Strahlkraft, die sich bloß auf ihr methodisches Vorgehen, ihre Applizierungsweisen beschränkt und dadurch den Blick abwendet von der Verwobenheit mit dem umgebenden Milieu. Theorietrends sind insofern immer gekoppelt an eine Weise der Welterschließung, sie sind ein Werkzeug, ((Im Sinne der heuristischen Deutung von Theorien-als-Werkzeuge bei Andreas Reckwitz. Andreas Reckwitz/Hartmut Rosa: Spätmoderne in der Krise. Was leistet die Gesellschaftstheorie? Berlin 2021, S. 149ff.)) die Welt auf eine bestimmte Weise zu betrachten.

Nicht nur eine philosophiehistorische Randnotiz, sondern eine für die Sortierung der Gegenwartssoziologie wertvolle Erkenntnis verspricht die stoische Unterscheidung zwischen der Philosophie als Praxis und dem Diskurs darüber. ((Vgl. Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Aus dem Französischen von Ilsetraut Hadot und Christiane Marsch, Berlin 1991, S. 167.)) Zur Einordnung in unserem Kontext: Status und Reputation der Praxeologie sind in ihrer historisch-lokalen Akzentuierung angelegt. Diesem methodologischen Programm zufolge fungiert Praxelogie im Sinne eines Werkzeugs, mit dem jeweilige gesellschaftliche Spannungsverhältnisse auf neue und kreative Weise interpretiert werden (anschließend müsste auch geklärt werden, in welcher Weise Theoretisieren mit sozialen Regimen des Neuen und generell mit einem für die Spätmoderne paradigmatisch ausgerufenen Kreativitätsdispositiv einhergeht. ((Vgl. Andreas Reckwitz: „Das Kreativitätsdispositiv und die sozialen Regime des Neuen“, in: Innovationsgesellschaft heute. Perspektiven, Felder und Fälle, hg. v. Werner Rammert (u.a.), Wiesbaden 2016, S. 133–153. )) Die dort angestellte Theoretisierung von Gesellschaft gelingt somit nur, wenn diese selbst auch einer Historisierung, das heißt ihrer lokalen Situiertheit, unterzogen wird. Und noch mehr: Theorie und Geschichte sind Elemente einer Form zu leben, ihr Ineinandergreifen ein Ausdruck von Lebensformen. Ein elaborierter Blick auf die Soziologiegeschichte, der eben die simultane Wechselwirkung zwischen soziologischen Theoriemoden und den sie umrahmenden gesellschaftlichen Dynamiken in den Blick nimmt, kann der Expressivität des doing sociological anhand von Spuren folgen. Dabei geht es nicht um Strukturhomologien, sondern sowohl um die Positionalität als auch um Expressivität dessen, was man tut, wenn man sagt, man betreibt Soziologie; expressive Positionalität könnte ein Modell bieten für daran anschließende Studien.

Gesellschaftstheorie ist eine extensive Praxis

Die Kernkompetenz der soziologischen Denkweise liegt im Geschäft der Gesellschaftstheorie. Und gerade das Beispiel der Diagnose und Konjunktur autoethnografischer Schreibprojekte der Gegenwartsliteratur bietet die Möglichkeit, diese Akzentuierung wiederzubeleben und im Dialog mit gesellschaftlichen Spannungsverhältnissen fortzuführen bzw. neu zu formulieren.

Gesellschafstheorie bedeutet zunächst einmal Interpretation, das heißt eine begriffliche Sortierung empirischer Phänomene, deren Ineinandergreifen in einem übergreifenden Muster dargestellt wird. Es ist die Praxis der bewussten Zuspitzung und Bündelung von mikrologischen Tendenzen in großen Zusammenhängen. Im Wissen der Undarstellbarkeit des Ganzen fungiert Gesellschaftstheorie als Experimentalanordnung im Sinne einer möglichen Verdichtung von Leben. Gesellschaftstheorie ist somit immer mehr als bloße empirische Faktizität; das sorgsame Ordnen, Sichten und Interpretieren als ein begriffliches Strukturieren des Gegenstandsbereichs, quasi die Bedingung der Möglichkeit für daran anknüpfende Studien; Impulsgeber und Deutungsangebot zugleich für die Standortbestimmung historisch-lokaler Gesellschaftsformationen. Dem Verhältnis zwischen gesellschaftlicher Interpretations- und empirischer Lebensform gilt insofern das genuine Erkenntnisinteresse soziologischen Forschens. Das ist es auch, was Charles W. Mills in etwas abgewandelter Form plakativ „sociological imagination“ ((Charles Wright Mills: The Sociological Imagination, Oxford 1959.)) genannt hat, deren aktualisierende Applikation der gegenwärtigen Soziologie gut anstehen würde. Im Anschluss an die überaus erfrischenden Grundlinien einer lyrischen Soziologie von Andrew Abbott ((Andrew Abbott: „Against Narrative: A Prefeace to Lyrical Sociology“, in: Sociological Theory 25 (2007), S. 67–99.)) ließen sich dadurch alternative Darstellungsformen gesellschaftlicher Strukturen und Dynamiken ableiten, die den dafür reklamierten Monopolanspruch der Soziologie hinterfragen und für die Berücksichtigung diverser Modi der Welterzeugung plädieren; ohne fixe Disziplingrenzen, ohne kategorialen Vorbestimmungen, eine Suche nach Formen des Übergangs zwischen Wissenschaft und Kunst. Gesellschaftstheorie als Kernkompetenz einer soziologischen Phantasie wäre dann tatsächlich eine hybride Angelegenheit, verortet in einer „trading zone“ am Übergang zwischen unterschiedlichen Wissenskulturen. ((Vgl. Peter Galison: „‚Trading Zone‘: Coordinacting Action and Belief (1998 abridgment)“, in: The Science Studies Reader, hg. v. Mario Biagoli, New York/London 1999, S. 137–160.)) Denn im Ensemble diverser Sprachspiele, Experimentierfelder und Figurationen formieren sich erst diejenigen „selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe“ ((Vgl. Clifford Geertz: „Thick Despricption: Toward an Interpretive Theory of Culture“, in: Ders.: The Interpretation of Cultures: Selected Essays, New York 1973, S. 3–30.)), deren Dechiffrierung das elaborierte Projekt einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie sich zum Ziel setzt.

Sozioautobiographie als Form und Gattung

Das Aufspannen eines weiten Interpretationsrahmens war notwendig, gewährt dieses doch Einblicke in die Form der angedachten Gesellschaftstheorie. Diese begnügt sich nicht im Nachweis eines autobiographical turn, sondern und bettet diesen 1.) ein in einem breiten wissenschaftshistorischen Zusammenhang. Wer Autoethnografie nur mit den Brillen der Gegenwart in den Blick nimmt, so die Annahme, redet der Tendenz einer Gegenwartsversessenheit das Wort und spricht zugleich einer bedeutsamen Forschungstradition ihre Berechtigung ab. Die Konfrontation zwischen historischen und gegenwärtigen Formen ist daher unabdingbar. So wird der Trend zum Teil eines Puzzles, dessen Lösung die Gesellschaftstheorie sich auferlegt.  2.) könnte die gattungstheoretische Diskussion der Gesellschaftstheorie hinzuarbeiten, insbesondere wenn diese als ein Unternehmen verstanden wird, das „ästhetische, wissenschaftliche und soziokulturelle Dimensionen integrieren muss.“ ((Paul Keckeis/Werner Michler: Gattungstheorie, Berlin 2021, S. 14.)) Gesellschaftstheorie und Gattungstheorie erweisen sich insofern wechselseitig wertvolle Dienste; diese könnten einander supplementieren, korrigieren und im kontroversiellen Austausch miteinander ständig erweitern. Die hier angedachte Verschränkung von soziologischen Wissensansprüchen und literarischen Erfahrungsräumen entfaltet sich dann als simultane Praxis kultureller Selbstproblematisierung, deren Parameter in einer breiter angelegten Gesellschaftstheorie auszubuchstabieren wären. ((Vgl. Christine Magerski: „Von der Kunst simultaner Beobachtung Literatursoziologie zwischen zwei Kulturen”, in: Artis Observatio. Allgemeine Zeitschrift für Kunstsoziologie und Soziologie der Künste 1 (2022), S. 21–48.)) Für diesen Zusammenhang bleibt aus diesen Vorschlägen dann festzuhalten: Die moderne Potenzierung gesellschaftlicher Selbstreflexion tritt von der strukturellen Ebene hinab auf die praktische Ebene; Gesellschaftliche Wirklichkeit wird nicht mehr nur beschrieben, man schreibt sich vielmehr in diese ein. Anschaulich nachzuvollziehen am Beispiel der Sozioautobiographie, die im sozial- und kulturwissenschaftlichen Feldzusammenhang zur ‚Gattung der Stunde‘ avanciert. Auf der einen Seite wandelt sich dadurch die Selbstbefragung im Modus der Soziologisierung des Ichs – ‚Was ist Soziologie?‘ wandelt sich zu ‚Mit welchen Formen der Soziologie führe ich mein Leben, mit welchen soziologischen Instrumenten beurteile ich dieses?‘: Das ist der Übergang zu einer neuen Form von Soziologie, in der die narrative Repräsentation von Gesellschaft sich rückkoppelt an das persönliche Leben. Die Soziologie ist ihr Gebrauch im Leben, traut man sich vorsichtig zu denken. Auf der anderen Seite kokettieren autofiktionale Tendenzen der Gegenwartsliteratur mit soziologisierenden Formen, die mit soziologischem Denkwerkzeugen die eigenen Poetologien reflektieren, problematisieren und erweitern. Im Zusammenspiel entfalten sich Übergangsformen, denen „eine gewisse Art von Expressivität“ inhärent ist. Diese Formen „werden zum Zweck der Übermittlung einer ganz spezifischen, zugleich existentiellen und historischen Situation neu erfunden.“ ((Judith Butler: Einleitung, in: Georg Lukács: Die Seele und die Formen. Essays, Bielefeld 2011, S. 5.))

Vor dieser Folie kann der Blick für die Zukunft einer interdisziplinären Gesellschaftstheorie geschult werden: Deren Aufgabe würde in der umfassenden Sortierung dieser Praxisformen bestehen. Allerdings nicht im repräsentativen Modus, sondern als Wissenskunst, als Spurenlesen, mit der erkenntnisleitenden Fragstellung: in welchen Räumen vollziehen sich und welche Formen prägen Übergänge vom Sozialen zum Gesellschaftlichen?

Der Umschlag von der Gesellschaftstheorie als Struktur zur Gesellschaftsvariation als Praxis zeichnet sich als Bricolage ab, einer Form extensiver Praxis. Gesellschaftsvariationen sollen hiernach stets die Vervielfältigung von Gesellschaftsbildern bemühen. Die stets expressive Praxis der Soziologie geht somit einher mit einer sich ständig extensivierten Theorie von Gesellschaft.

Editorial Peer Review
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Empfohlene Zitierweise: Raffael Hiden: „Die expressive Praxis der Soziologie und die extensive Theorie der Gesellschaft“, in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2022, S. 1-7. DOI: 10.25598/transitionen-2022-1 <https://transition.hypotheses.org/785>