Bilddeutung (lange) nach Erwin Panofsky

Aufsatz von Matthias Bruhn

Die Kunst der Bildbeschreibung

Selbst in einer Disziplin wie der Kunstgeschichte, die sich täglich mit sichtbaren Formen aller Art befasst, kommt es vor, dass Fachleute einander um Rat fragen, weil sie Literatur zum Thema „Bildbeschreibung“ suchen. Zwar wird die Betrachtung und Beschreibung von Bildern vielerorts schon in der Schule praktiziert, z.B. um die Ausdrucksweise zu schärfen, und es gehört auch an der Universität zu den fachlichen Standardübungen, Kunstwerke in Worte zu fassen, um ihr konkretes Erscheinungsbild oder ihre Wirkung überhaupt diskutieren zu können. Dennoch bleibt die Übersetzung des Visuellen ins Verbale ein eher stummes Wissen, für das es offenbar keine verbindlichen Regeln gibt. Im Gegenteil, in Zeiten digitaler Bildkommunikation scheint sie immer entbehrlicher zu werden. Falls sich doch jemand daran versucht, eine Beschreibungslehre zu formulieren, so geschieht dies sehr wahrscheinlich im Rahmen von methodischen Einführungsbänden. ((Jüngst z.B. bei Thomas Noll: Einführung in die Beschreibung und Analyse von Werken der bildenden Kunst, Darmstadt 2021.))

Der Grund dafür liegt im Gegenstand selbst. Während Teilbereiche wie die Architektur ihre eigenen Vokabulare ausgebildet haben (also technische oder morphologische Wortschätze, wie sie auch die Medizin kennt), verlangt eine künstlerische Performance, die nur bruchstückhaft in einem Foto überliefert ist, nach ganz anderen Begriffen als eine aus Plastikresten gefertigte Skulptur. Eine Biologin wird in einer Lithografie des 19. Jahrhunderts, in der die Ergebnisse einer Expedition dargestellt sind, etwas anderes sehen als ein Experte für Druckgrafik. Ebenso verhält es sich mit einem Röntgenbild, das zwar leicht zu erkennen, aber schwer zu deuten ist, oder mit einem Werbeplakat, dessen reduzierte Formen auf bestimmte Orte, Formate und Auflagen hin konzipiert sind. Tatsächlich bleibt jede Beschreibung eine Setzung, die den Blick auf bestimmte Details richtet, persönliche Interessen und professionelle Sehweisen spiegelt und dadurch Deutungen vorwegnimmt.

Auch das etwas sperrige Verhältnis von Bild und Text ist eine Frage, die neben der Kunstgeschichte viele weitere Disziplinen wie die Literaturwissenschaft, die Philosophie (z.B. als Zeichentheorie) oder die Visuelle Kommunikation herausgefordert hat. Theoretische Schriften kreisen um die diskursive Frage, was eine Beschreibung bezwecken soll oder an wen sie sich richtet. Sie weisen darauf hin, dass die Beschreibung schon in der Antike als Kunstform, als ekphrasis hochgeschätzt worden sei, oder dass die Beschreibung auch entlang jener Grenze verläuft, die einen Gegenstand von seiner bildlichen Wiedergabe unterscheidet. Offen bleibt damit aber weiterhin, wie diese Beschreibung zu erfolgen hat, vor allem wenn sie nicht an bestimmte Fachgrenzen gebunden ist. ((Vgl. Rüdiger Inhetveen und Rudolf Kötter (Hg.): Betrachten, Beobachten, Beschreiben. Beschreibungen in Kultur- und Naturwissenschaften, München 1996 oder Matthias Bruhn und Gerhard Scholtz (Hg.): Der vergleichende Blick. Formanalyse in Natur- und Kulturwissenschaften, Berlin 2017.))

Als ein Leitfaden wird gelegentlich Michael Baxandalls Einleitung zu seinem Essay-Band „Ursachen der Bilder“ (engl. Patterns of Intention) empfohlen, die dem Spannungsverhältnis von bildlicher Form und linearer Sprache nachgeht. ((Michael Baxandall: Ursachen der Bilder. Über das historische Erklären von Kunst, Berlin 1990 (zuerst New Haven 1985), S. 25–39.)) Aber auch dieser Text zeigt, dass das Beschreiben eine Kunst bleibt, die sich historisch wandelt und auf sehr verschiedene Weise anstellen lässt. Baxandall weist außerdem darauf hin, dass eine rein verbale Beschreibung eines Bildes (z.B. über Telefon) es kaum zulässt, sich dessen Form konkret vorzustellen.

Die Ikonographie als Wissenschaft

Einen Ausweg scheint hier Erwin Panofsky (1892–1968) zu bieten. Der in Hannover geborene und an der noch jungen Hamburger Universität tätige Kunsthistoriker, der während der NS-Herrschaft in die USA emigrierte, hatte 1932 in seinem Aufsatz „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“ eine Methode zur Deutung von Bildern der Renaissance skizziert, die später eine unerwartete Karriere gemacht hat. ((Erwin Panofsky: „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“, in: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur 21 (1932), S. 103–119.))

In den USA griff Panofsky den Text und dessen Kerngedanken 1939 noch einmal für ein englischsprachiges Publikum unter dem Titel „Studies in Iconology” auf. ((Erwin Panofsky: Studies in Iconology. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939.)) Dieser Aufsatz wurde von ihm weiter ausgebaut, er wurde in zahlreiche Sprachen übertragen und schließlich auch ins Deutsche zurückübersetzt. ((Erwin Panofsky: „Ikonographie und Ikonologie“, in: E.P.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, S. 36-50 und 63f.)) Begünstigt wurde der Erfolg durch eine beigefügte Synopse, die als eine schrittweise Anleitung zur Interpretation von Bildern verstanden werden konnte.

Erwin Panofskys Synopse aus „Ikonographie und Ikonologie“, in: E.P.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, S. 50.
Erwin Panofskys Synopse aus „Ikonographie und Ikonologie“, in: E.P.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975, S. 50.

Auch unabhängig vom Text erwies sich diese Tabelle als griffige Handreichung zur Bildanalyse, sie wurde zur Grundlage von Propädeutika und ist bis heute in fast jeder Einführung in die kunsthistorische Methodik zu finden. Da sie obendrein in allen erdenklichen Disziplinen, von der Geografie bis zur Soziologie und von der Pädagogik bis zur Geschichtswissenschaft zum Einsatz kommt, wird sie heute womöglich sogar häufiger außerhalb als innerhalb der Kunstgeschichte verwendet. ((Siehe z.B. Thomas Petersen und Clemens Schwender: Die Entschlüsselung der Bilder. Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation. Ein Handbuch, Köln 2011. Die von Jan Hodel und Andreas Cremonini organisierte pädagogische Fachtagung „Panofsky and beyond. Bildanalyse-Schemata in Bildwissenschaft und Fachunterricht“, die am 2. und 3. Dezember 2016 in Basel stattfand, hat auf diesen Umstand bereits hingewiesen.)) Dies gibt Anlass zum Nachdenken und zur Rückschau.

Der Aufsatz von 1932 und sein englischsprachiger Nachfolger stellen die sogenannte Ikonographie vor, also ein Verfahren zur Bestimmung von Bildinhalten, das zu Panofskys Studienzeiten noch relativ neu war. Dem Wortsinn nach meint Ikonographie zunächst nichts anderes als die Aufzeichnung bestimmter Bilder und Bildmotive; durch deren Vergleich wird es jedoch auch möglich, Aussagen über ihre mögliche Botschaft, ihren Gehalt zu treffen. Die historisch-kulturellen, funktionalen und rezeptiven Wandlungen, die einzelne Motive durchlaufen, machen es möglich, daraus eine umfassendere Bilderlehre („Ikonologie“) zu entwickeln.

Der Text von 1932 beginnt mit einer Anmerkung Gotthold Ephraim Lessings zur antiken Kunsttheorie und entwickelt von dort aus das Problem der Kunstbeschreibung am Beispiel mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Bildwerke, deren Bedeutung mit zunehmendem zeitlichen Abstand immer rätselhafter wird. Panofsky schlägt daher zum Ende des Aufsatzes eine Unterscheidung dreier Ebenen vor, aus denen sich ihre Bedeutung zusammensetze, nämlich aus dem „Phänomensinn“, der die unverändert sichtbare Form beschreibt, dem „Bedeutungssinn“, der den Gehalt eines Bildes meint, und dem „Dokumentsinn“, der für die „weltanschauliche“ Dimension eines Kunstwerkes, für die Sehweisen einer Zeit stehe.

Als Einstieg in die englische Fassung wählt Panofsky ein anderes, anschauliches Beispiel, das zu Zeiten der Veröffentlichung in den 1930er Jahren durchaus noch als alltäglich gelten konnte, nämlich das Ziehen eines Hutes auf der Straße. Der Autor notiert, dass die Geste des Hutziehens in den meisten Fällen als Zeichen der Ehrerbietung und Begrüßung aufgefasst werden dürfte, während sie in rein formaler Hinsicht nichts weiter sei als die Bewegung einer Hand, die einen Gegenstand halte. Panofsky nennt diese formale Betrachtung „vor-ikonographisch“, weil sie der Einordnung als Grußformel und damit einer ikonographischen Bestimmung vorausgeht. In „ikonologischer“ Hinsicht wäre das Hutziehen schließlich Ausdruck gesellschaftlicher Konventionen, die von späteren Generationen womöglich nur noch mithilfe zusätzlicher Kenntnisse, etwa historischer Schriftquellen, dechiffriert werden kann.

Diese Annahme wird sich mit Panofskys Auswanderung in die USA noch verstärkt haben – so wie ihm das allmähliche Verschwinden von Hüten aus dem heutigen Straßenbild Recht gibt. Jedenfalls hat der Autor mit seinem Eingangsbeispiel treffend festgestellt, dass Wahrnehmungen stets Projektionen sind, bei denen Sehen und Deuten prozessual ineinandergreifen. Dies war aus der ästhetisch-kunstwissenschaftlichen Theorie bekannt. ((Siehe Anja Schürmann: Begriffliches Sehen. Beschreibung als kunsthistorisches Medium im 19. Jahrhundert, Berlin 2018.)) Denn im Alltag meint die Frage „Was siehst Du gerade?“ in der Regel eine Aussage wie „ich sehe zwei Frauen“ oder „ich sehe eine verregnete Landschaft“ und keine Angabe von Abmessungen oder primären Farbwerten. In der Sprache zeigt sich also, dass Formen bereits als Gestalt erfasst und bewertet werden. Nur wenn Funktionen und Eigenschaften eines Objektes unbekannt sind (wie bei einem deformierten Stück Plastik oder bei einem archäologischen Fragment), richtet sich ein halbwegs unbefangener Blick darauf, der dann aber ebenso schnell nach Merkmalen und Orientierungspunkten sucht. Panofsky spricht daher von „pseudo-formaler“ Beschreibung, weil eine strenge Formanalyse selbst Ausdrücke wie Pferd, Bein oder Tisch vermeiden müsste, um keine funktionalen Aussagen vorwegzunehmen. Auf der anderen Seite scheint die Alltagserfahrung die ikonographische Einordnung von Bildmustern zu bestätigen.

Das Schema, mit dem Panofsky den ersten Teil der englischsprachigen Fassung beschlossen hat, unterscheidet sich erheblich von der Tabelle des ersten Aufsatzes. Es bereitet die verschiedenen Ebenen begrifflich so auf, dass sie wie die Arbeitsschritte eines wissenschaftlichen Verfahrens verstanden werden können: Von oben nach unten folgt auf das Phänomen die Bedeutung, danach das Wesen eines Bildes; und auf die Ikonografie, d.h. die Aufzeichnung bestimmter Merkmale oder Gesten, folgt die Ikonologie, die diese Zeichen kulturell einordnet. In den Spalten von links nach rechts verallgemeinert die Tabelle außerdem den Vorgang von der Wahrnehmung zur Interpretation und ihrer Kritik. Am rechten Rand ist eine erkenntnistheoretische Revision eingebaut, die Panofsky „Korrektivprinzip“ nennt.

Als Panofsky seinen Aufsatz verfasste, waren in der Kunstgeschichte andere Richtungen durchaus präsenter, z.B. die Darstellung nach Epochen, Biografien und Schulen. Nach ihnen sind Kunstbücher und ‑museen noch heute strukturiert. Das Universitätsleben war außerdem von technischen und naturwissenschaftlichen Vokabeln durchtränkt. ((Noch stärker kommt dies zum Ausdruck in Panofskys berühmtem Aufsatz „Die Perspektive als symbolische Form“, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1924-1925, Leipzig 1927, S. 258–330.)) Ästhetische Theorie, Stilkunde und Kennerschaft dominierten den Diskurs und erhoben den Anspruch, Entwicklungen oder Gestaltungsprinzipien der Kunst wissenschaftlich zu erklären. Im Gegenzug wurden kunstwissenschaftliche Begriffe wie der „Stil“ auch naturwissenschaftlich rezipiert (z.B. in Ludwik Flecks Buch „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“, das erstmals 1935 erschienen ist). ((Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hrsg. von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle, Frankfurt am Main 1980.))

Die Ikonografie, die sich erst im 19. Jahrhundert formiert hatte, sollte in diesem Umfeld weit mehr sein als nur ein historisches Werkzeug der Identifikation. Durch die ikonografische Bestimmung sollten Bilder in belastbare Quellen einer Forschung verwandelt werden, an der Fächer wie die Philologie, die Religionswissenschaft und die Kulturgeschichte teilhaben. Panofskys Lehrtafel zum Ende des Artikels war dementsprechend auf Stimmigkeit und Symmetrie bedacht, und es war kein Zufall, dass sie erstmals 1931 einem philosophischen Fachpublikum vorgestellt wurde. ((Ein vergleichbares Schema bietet Erwin Panofsky: „Über das Verhältnis der Kunstgeschichte zur Kunsttheorie. Ein Beitrag zu der Erörterung über die Möglichkeit ‚Kunstwissenschaftlicher Grundbegriffe‘, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 18 (1924), S. 129–161.))

Das soziale Leben der Bilder

Die Ikonologie wird heute dagegen überwiegend mit dem Namen Aby Warburg (1866–1929) verbunden. Der Hamburger Kunsthistoriker und Bankierssohn hatte eine umfassende Forschungsbibliothek aufgebaut, die nicht nur auf die Ausdeutung einzelner Kunstwerke abzielte, sondern die langfristige Entwicklung von Formen kartieren sollte, die über Jahrhunderte hinweg Botschaften zu transportieren imstande sind. Warburg trug dazu Beiträge aus der Religions- und Kulturgeschichte, aber auch aus naturwissenschaftlichen Gebieten zusammen. Wenige Jahre nach seinem Tod und im Zuge der Machtübernahme durch die NSDAP wurde die Bibliothek nach London überführt und nach dem Krieg als Warburg Institute in die University of London integriert.

In Warburgs Augen konnten Bilder aller Art, von antiken Reliefs bis zu modernen Funkbildern, zum Vehikel eines visuellen Kulturaustausches werden. Die europäische Renaissance war eine zentrale Zwischenstation auf diesem Weg, nicht nur als leuchtende humanistische Epoche, sondern auch als nietzscheanische Wiederkehr gewaltvoller und abergläubischer Zeiten. Die Traditionslinie führte von Babylon und Alexandria über Florenz und Hamburg bis nach New York, entlang der Handelswege und der HAPAG-Schiffsrouten, auf denen auch die Waren- und Nachrichtenströme der modernen Wirtschaftsimperien verliefen.

Panofsky folgte dieser Route ins Exil. In den USA wurde er gewahr, dass sein stupendes Wissen in die Sprache eines Publikums übersetzt werden muss, das europäische Kultur mit Florentiner Kunst und Pariser Moderne gleichsetzt. ((Erwin Panofsky: „Drei Jahrzehnte Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten. Eindrücke eines versprengten Europäers“, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1975 (zuerst Garden City 1955), S. 378–406.)) Seine voluminösen und auflagenstarken Bücher über mittelalterliche Architektur und altniederländische Malerei lieferten die Synthese, indem sie mit der Entschlüsselung europäischer Kunst zugleich eine existenzielle Botschaft übermittelten: Seine zweite Frau Gerda, die ihren Mann 1966 kurz vor dessen Tod in Princeton heiratete, hat kürzlich von der Kindheit ihres Mannes berichtet, der auf Distanz zu einem Abendland blieb, das sich als christlich definierte und ihn als Juden vertrieben hatte. ((Gerda Panofsky: Erwin Panofsky von Zehn bis Dreißig und seine jüdischen Wurzeln, Passau 2017.)) In New York und Princeton, an der Seite Albert Einsteins, wurde Panofsky gleichwohl zum Vermittler europäischer Kunstgeschichte, um ein Vielfaches bekannter als der spröde Hutträger Warburg.

Die ebenfalls nach 1933 in die Emigration getriebene, marxistisch orientierte Sozialforschung verfolgte Themen, die sich auf den ersten Blick erheblich von den Gegenständen Warburgs und Panofskys unterschieden. Sie wiesen dennoch zahlreiche Verbindungen auf. So bezieht sich der „Dokumentsinn“ in Panofskys Schema von 1932 noch explizit auf den Soziologen Karl Mannheim und seine Theorie der „Weltanschauung“. ((Panofsky, „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung“, 1932, S. 115, mit Bezug auf Karl Mannheim: „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungs-Interpretation“, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte 1 (1922/1923), S. 236–274.)) Die Zeitschrift Logos, in der Panofskys Aufsatz erstmals erschien, wurde vom Soziologen Georg Simmel herausgegeben, der zwar eine andere Richtung vertrat, aber hier als Vermittler fungierte.

Die Berührungspunkte ergaben sich aus dem vergleichbaren oder gemeinsamen Interesse, aus äußerlich sichtbaren Phänomenen verborgene Zustände und Botschaften herauszulesen. In der griechischen Antike war dieses ‚physiognomische‘ Deutungsvermögen aus der Heil- und Seelenkunde bekannt. Im frühneuzeitlichen Europa wurde der Begriff Physiognomie dann durch ein illustriertes Buch von 1586 popularisiert, in dem der italienische Arzt Giambattista della Porta menschliche Charaktere mit animalischen Eigenschaften gleichsetzte.

Titelkupfer zu Giambattista della Porta: De Humana Physiognomonia libri IIII, Vico Equense 1586.
Foto: The National Library of Medicine

Erwin Panofsky stand ebenso in dieser physiognomischen Tradition wie Walter Benjamin, der sich vergeblich um Aufnahme in den Hamburger Warburg-Kreis bemüht hatte. ((Daniela Bohde: Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft. Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre, Berlin 2012, hier S. 193–202. Zu Benjamin vgl. Wolfgang Kemp: „Walter Benjamin und die Kunstwissenschaft, 2: Walter Benjamin und Aby Warburg“, in: kritische berichte 3 (1975), Heft 1, S. 5–25 sowie Steffen Haug: Benjamins Bilder. Grafik, Malerei und Fotografie in der Passagenarbeit, München/Paderborn 2017.)) Gleiches galt für die Fotografie jener Zeit, etwa für August Sander oder für die von Benjamin hochgeschätzte Gisèle Freund, deren Porträts Physiognomien der zeitgenössischen Gesellschaft herausarbeiten sollten.

Sieben Jahre nach Porta erschien ein Büchlein des Italieners Cesare Ripa unter dem Titel Iconologia, das eine ähnliche Doppelfunktion als Dechiffrierungs- und Gestaltungshilfe erfüllte und sich darum gerade in Kunstkreisen wachsender Beliebtheit erfreute. Es war nach Art eines Lexikons aufgebaut, um abstrakte Begriffe wie z.B. Tugenden anhand bestimmter Merkmale zu identifizieren oder sie im Gewand mythologischer Figuren in Erscheinung treten zu lassen. Da sich die Iconologia schnell zum Verkaufserfolg entwickelte, wurde sie ab der zweiten Auflage illustriert.

Auftaktseite aus Cesare Ripa: Iconologia, illustrierte Ausgabe, Venedig 1645, mit Eintrag „Abondanzia“.
Foto: The Internet Archive/Duke University Libraries

Die Ausstattung mit Holzschnitten war von fundamentaler Bedeutung für die Kopplung von Bild und Begriff. Sie wurde durch Bücher wie den Orbis pictus von Johann Comenius, durch antiquarische Kataloge und Bildatlanten weiter eingeübt. Im 19. Jahrhundert begann dann die Medizin, Bildbände und vergleichende Fotoalben als Ikonographien zu bezeichnen. Auch Archäologie und Geschichtswissenschaft übernahmen den Begriff. Die damit verbundene Kodifizierung von Bildmustern war wiederum prägend für neue Richtungen wie die Kriminologie oder die Psychoanalyse. ((Siehe Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, mit Neuausgaben unter leicht verändertem Titel.))

Das weitere Nachleben der Iconologia wurde von der Kunsthistorikerin Erna Mandowsky recherchiert. ((Erna Mandowsky: Untersuchungen zur Iconologie des Cesare Ripa, Univ. Diss. Hamburg 1933; vgl. dies.: Einführung zu Cesare Ripa: Iconologia, overo descrittione di diverse imagini cavate dall’antichità, e di propria inventione, Nachdruck der Ausgabe Rom 1603, Hildesheim 1970.)) Ihre Dissertation entstand unter Aufsicht Fritz Saxls, des Leiters der Warburg-Bibliothek, und zeitgleich zu Panofskys Aufsatz. Sie fiel außerdem in eine Hochphase der illustrierten Presse, die sich zu einer politischen Waffe entwickelt hatte und als solche von Walter Benjamin und Siegfried Kracauer studiert wurde.

Nach dem Krieg besannen sich kulturkritische Veröffentlichungen auch auf den Warburg-Kreis, der nach 1933 zersprengt worden war und im englischen Sprachraum weiterwirkte. In Zeiten von Massenkonsum und Fernsehreklame konnten Ikonographie und Ikonologie nicht nur dabei helfen, Botschaften oder gestische Qualitäten bildender Kunst zu verstehen, sondern auch den ideologiekritischen Nachweis führen, dass das Politische in höchst unterschiedlichen Gewändern auftritt. In diesem Sinne wurde die ikonografische Methode besonders ab den frühen 1980er Jahren als „Historische Bildkunde“ und als „Politische Ikonografie“ reaktiviert.

Auch Panofsky erfuhr eine Relektüre. ((Dieter Baacke: „Der traurige Schein des Glücks. Zum Typus kommerzieller Jugendzeitschriften“, in: Visuelle Kommunikation. Beiträge zur Kritik der Bewußtseinsindustrie, hg. v. Hermann K. Ehmer, 8. Aufl. Köln 1980 (zuerst 1971), S. 213–250, hier S. 241ff. zu Panofskys Ansatz und mit Bezugnahme auf Ernst Cassirer, Roland Barthes und Pierre Bourdieu.)) Der Epistemologe Michel Foucault, so hat Ilaria Fornacciari kürzlich gezeigt, sah in Erwin Panofskys Schriften einen entscheidenden Schritt für die moderne Kunsttheorie. ((Ilaria Fornacciari: „The Complexity and Stark of Pictorial Knowledge: About Foucault Reading Panofsky“, in: IMAGES 2 (2014), S. 1–12 https://www.visual-studies.com/images/no2/fornacciari.html (letzter Zugriff Juli 2022).)) Pierre Bourdieu hat in seiner Soziologie der symbolischen Formen ebenfalls auf Panofsky zurückgegriffen, weil sich dessen Begriff des mittelalterlichen, scholastischen „Habitus“ zur Beschreibung von sozialen Milieus eignete. ((Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen. 12. Aufl. Berlin 2020 (zuerst Frankfurt am Main 1986)). Bourdieus Buch war außerdem eine Anerkennung des Umstandes, dass Panofsky nicht nur eine ikonographische, sondern eine genuine Stiltheorie formuliert hatte. ((Zur Bedeutung der Stiltheorie bei Panofsky in der Tradition Alois Riegls siehe Regine Prange: „Die erzwungene Unmittelbarkeit. Panofsky und der Expressionismus“, in: Idea 10 (1991), S. 221–251. Auch Warburg verstand sich als Anhänger der Riegl’schen Stiltheorie.)) In diesem Sinne ist Panofsky für jüngere Richtungen wie die Visuelle Soziologie oder die Visuelle Bildung weiterhin anregend geblieben. ((Siehe z.B. Ralf Bohnsack: „The Interpretation of Pictures and the Documentary Method“, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34 (2009), S. 296–321; vgl. auch Schürmann, Begriffliches Sehen, 2018.)) In der qualitativen Sozialforschung, die in Europa und den USA Fotografien eingesetzt hat, um Lebensweisen zu studieren und Milieus zu unterscheiden, lebt außerdem die physiognomische Tradition weiter.

Doppelseite aus Berthold Bodo Flaig, Thomas Meyer und Jörg Ueltzhöffer: Alltagsästhetik und politische Kultur. Zur ästhetischen Dimension politischer Bildung und politischer Kommunikation, Bonn 1993, S. 128f.

Eine allmähliche Ablösung

Im Zuge dieser breiten Rezeption ist auch die Tabelle aus Panofskys Aufsatz vielfach variiert und angepasst worden. So wirft eine flüchtige Internet-Recherche zu den Stichworten Panofsky + Interpretation neben dem Begriffsschema auch Formen aus, die eher an Fließdiagramme erinnern, darunter eine Version des Soziologen Ralf Bohnsack.

Diagramm aus Ralf Bohnsack: „The Interpretation of Pictures and the Documentary Method“, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 34 (2009), S. 300.

Obwohl es im Text nicht vorgesehen war, hat die klare Einteilung der Deutungsebenen also begünstigt, dass sie als Programmschritte gelesen werden können. Max Bense, der in den 1950er Jahren unter dem Einfluss der neuen Elektronenrechner auf eine „Informationsästhetik“ hinarbeitete, ((Max Bense: Aesthetica, Bd. 2: Aesthetische Information, Stuttgart 1956.)) hätte Panofskys Stufenmodell womöglich als Vorschlag zur Arbeitsteilung von formaler Analyse und kultureller Deutung verstanden. Und es wäre keine Überraschung, wenn digitale Bilderkennung und digital humanities erneut auf Panofskys Interpretationsschema hinauslaufen.

Während jedoch der Kulturwissenschaftler Aby Warburg in den letzten Jahrzehnten eine ungeahnte Wiederentdeckung erlebt hat, scheint Erwin Panofsky in seinem eigenen Fach, der Kunstgeschichte, merklich zurückzufallen. Bezeichnend ist dabei, dass vieles, was einem Aby Warburg hoch angerechnet werden kann, dem Gelehrten aus Princeton angekreidet wurde. So traf Panofsky der Vorwurf, Kunst nur aus der Perspektive schwarzweißer Reproduktionen zu betrachten – obwohl er nachweislich farbige Diapositive im Unterricht eingesetzt hat –, während Warburg gerade wegen seiner konsequenten Arbeit mit Schwarzweiß-Reproduktionen als Modernist gilt. ((Etwa bei Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln 1999 (zuerst Paris 1997), S. 29f.)) Warburgs weitgespannter Blick auf die Welt wird – im vollen Bewusstsein seines kolonialen Erbes – in Ausstellungen und Büchern gefeiert, während Panofskys belesene Interpretation der Kunstgeschichte als altbacken gelten darf.

Panofsky selbst verstand „Ikonologie“ weniger in direkter Nachfolge Warburgs als in der Wiener Tradition der Kunstwissenschaft. ((Vgl. Bohde, Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft, 2012, S. 200.)) Damit war allerdings auch der Weg bereitet für eine Kritik aus eben dieser Richtung. So hat der Wiener Kunsthistoriker Otto Pächt schon 1977 Panofskys Neigung moniert, Kunstwerke gleich welcher Machart als Zeichenträger zu lesen und gestalterische Fragen bevorzugt philologisch anzugehen. ((Otto Pächt: „Kritik der Ikonologie“ (1977), in: Ikonographie und Ikonologie. Theorien, Entwicklung, Probleme, hg. v. Ekkehard Kaemmerling, Köln 1979, S. 353–376.)) Im Unterschied zur Wiener Schule schien sich Panofsky nicht für abstrakte Formen und ihre Ausdrucksqualität zu interessieren. Bezeichnend war seine Kritik eines Gemäldes von Barnett Newman, weil dessen lateinischer Titel in einer Kunstzeitschrift als Vir heroicus sublimus angegeben worden war, obwohl er doch sprachlich korrekt auf sublimis enden müsse (1950, heute unter diesem Titel im New Yorker MoMA). Das abstrakte Gemälde spielte in diesem akademischen Disput, der in Leserbriefen ausgetragen wurde, nur eine Nebenrolle. ((Beat Wyss: Ein Druckfehler. Panofsky versus Newman – verpasste Chancen eines Dialogs, Köln 1993.))

Die Stiltheorie konnte in der Ornamentik von Kunsthandwerk und Architektur die gleichen Kräfte am Werk sehen wie in den abstrakten Formen der modernen Kunst. Panofskys Unterscheidung von Form und Bedeutung wirkte daneben schulmeisterlich und trocken. Es klingt gewunden und rechtfertigend, wenn der Autor an einer Stelle seines Ikonographie-Aufsatzes zusammenfasst, die Analyse eines Kunstwerkes habe

„erst dann ihr eigentliches Ziel erreicht, wenn sie die Gesamtheit der Wirkungsmomente (also nicht nur das Gegenständliche und Ikonographische, sondern auch die rein formalen Faktoren der Licht- und Schattenverteilung, der Flächengliederung, ja selbst der Pinsel-, Meißel- oder Stichelführung) als ‚Dokumente‘ eines einheitlichen Weltanschauungssinns erfaßt und aufgewiesen hat.“ ((Erwin Panofsky: „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst“ (1932/1964), in: Kaemmerling, Ikonographie und Ikonologie, 1987, S. 185–206, hier 201.))

Tatsächlich verweist dieser „einheitliche Weltanschauungssinn“ aber nicht nur auf die Theorien eines Karl Mannheim, sondern auch auf die kunstwissenschaftliche Sprache jener Zeit, darin eingeschlossen die stiltheoretische und kunstpsychologische Diskussion, die in Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen von 1915 einen Höhepunkt fand und von Panofsky kurz erwähnt wird. So hatte auch Wölfflin konstatiert, dass jede Zeit ihr spezifisches „Sehen“ habe und sich die Renaissancekunst nur innerhalb dieser historisch-ästhetischen Spielräume bewegen könne.

Doppelseite aus Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, 6. Aufl. Basel 1923, S. 2f.

Die Grundbegriffe wurden wie das Panofsky’sche Schema zu einem Allzweckmittel der ästhetischen Bestimmungsarbeit. Sie konnten für die Beschreibung japanischer Farbholzschnitte ebenso wie für die Klassifikation medizinischer Bilder herangezogen werden; Gilles Deleuze hat Prinzipien der Filmgestaltung auf ihrer Basis studiert. ((Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild (Kino, 1), Frankfurt a. M. 1989 (zuerst Paris 1988), S. 292, Anm. 25 zu S. 46, und S. 305, Anm. 1 zu S. 124.))

Dazu passt, dass auch Panofsky das zeitgenössische Kino schätzte und darüber schrieb, sich also keineswegs nur in Bibliotheken und Kunstgalerien aufhielt. Die Geste des Hutziehens, auf der sein Schema aufbaute, hätte er einem expressionistischen Stummfilm entlehnen können; und die heutigen Möglichkeiten der digitalen Produktion und Appropriation, die überzeichneten Codes der Selfies, Memes oder des Cosplay hätte er sicherlich als Zeugnisse einer fortlaufenden Parodie und Travestie aufgefasst.

Während Warburgs psychologisches Interesse an der globalen Wanderung von Formen seine neuerliche Wirkung im Zeitalter der Memes und der digitalen Viralität entfaltet, hat sich Panofsky mit weitergehenden Spekulationen zur Wirkung und Aussagekraft von Bildern zurückgehalten. Mit Blick auf die Themen des Warburg-Kreise hat er im Aufsatz von 1939 zumindest auf die Gefahr hingewiesen, dass sich die Ikonologie zu Ikonographie eines Tages verhalten könne wie die Astrologie zu Astronomie, wenn sie das Terrain der bildlichen und textlichen Dokumentation verlasse.

Diese Skepsis gegenüber der Aussagekraft natur- und kunstwissenschaftlicher Verallgemeinerungen war wohlbegründet. Denn Menschen reagieren verschieden auf Bilder, und während sich nur schwer ermitteln lässt, was sie in ihnen sehen, lassen sich motivische Traditionen zumindest bildlich nachverfolgen. Ein experimentalpsychologischer Versuch kann zwar zeigen, dass Menschen unterschiedlich auf das Motiv eines schwarzen Quadrats reagieren, aber nicht den Unterschied zwischen einer schwarzen Wandfliese und einer Malerei aus der Hand Kasimir Malewitschs erklären.

Innenansicht der „letzten futuristischen Ausstellung 0,10” Petrograd (heute St. Petersburg), Ende 1915. Foto: Wikipedia

Erst an dieser Stelle aber sollte das Panofsky’sche Stufenmodell wirklich ansetzen. Er resümierte daher selbst: „Kurzum, die Ikonographie erörtert nur einen Teil all jener Elemente, die in den eigentlichen Gehalt eines Kunstwerkes eingehen […]“. ((Panofsky, „Ikonographie und Ikonologie“, 1975, S. 42.)) Es war ihm offenkundig bewusst, dass die Ikonologie nur Baustein einer „synthetischen“ Praxis ist, die auf vorangehenden formalen Vergleichen und auf Beobachtungen beruht. Um beispielsweise zu prüfen, ob ein Bürobau in Berlin-Mitte einen Bau aus der Zeit Mussolinis ‚zitiert‘ oder ob eine Beziehung zwischen dem Schwarzen Kreuz auf Leinwand von Kasimir Malewitsch und einer Textilarbeit Rosemarie Trockels besteht, muss jemand diese formale Assoziation zunächst einmal hergestellt haben.

Biennale di Venezia, Detailansicht aus demZentralen Pavillon mit einer Textilarbeit von Rosemarie Trockel (o.r.), „Deep Memory“, Mai 2022.
Foto: Matthias Bruhn

Und nicht immer gibt es so klare formale Analogien wie in einer älteren Arbeit Trockels von 1988 (Who will be in in ’99?, Städel Museum Frankfurt a. M.) oder in der Zeichensprache der Gruppe Neue Slowenische Kunst, die das Malewitsch-Kreuz fast gleichzeitig und als solches erkennbar aufgegriffen haben.

Ein verändertes Bild

Obwohl Panofskys Bücher weiterhin zu den Klassikern der Kunstgeschichte zählen, dürfte sein Deutungsmodell innerhalb des Faches als out gelten. Überhaupt ist die Ikonografie stets nur eine Richtung unter vielen geblieben und im Laufe der Jahrzehnte durch poststrukturalistische, feministische, rezeptionsästhetische, postkoloniale, ethnologische oder medienarchäologische Ansätze herausgefordert worden, die sich hier gar nicht aufzählen lassen, die aber ebenfalls zum Wissens- und Diskussionsstand des Faches gehören.

Dass die Panofsky’sche Deutungslehre im Idealfall die ‚eigentliche Bedeutung‘ eines Kunstwerkes freilege, hat in einer kritisch gestimmten ästhetischen Theorie und Kunstgeschichte der 1960er Jahre Zweifel gesät, worin diese Eigentlichkeit bestehen soll. Zwar stand und steht die ikonografische Betrachtung von Bildern, wie eben erwähnt, nicht im Widerspruch zur ideologiekritischen Annahme, dass die Sehweisen der modernen Gesellschaft auf kollektiven Medien und Technologien beruhen. Aber Panofskys Stufenmodell musste offenlassen, wie die damit verbundenen Konditionierungen oder Blickregime funktionieren. Dies war einer der Kritikpunkte an Autoren wie Panofsky und Wölfflin seitens der US-amerikanischen Visual Culture Studies, die eher der Frankfurter Schule verpflichtet blieben. ((Vgl. Martin Jay: „Scopic Regimes of Modernity”, in: Vision and Visuality, hg. v. Hal Foster, Seattle 1988, S. 323, der sich mit dem Problem der Perspektivkonstruktion befasst und auch Panofsky anführt; siehe auch William J. Thomas Mitchell: Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago 1986.))

Zu den Einwänden, die schon Otto Pächt ausgesprochen hatte, kommt außerdem eine grundlegend veränderte künstlerische und mediale Situation hinzu. Das moderne Kunstwerk tritt immer seltener als Historienmalerei in Erscheinung. Es kann aus Primärfarben, geometrischen Formen oder gefundenen Objekten bestehen. Es ist zunehmend mit seinem Kommentar verflochten und thematisiert die Institutionen, in denen es ausgestellt wird. Es ist stets Ausschnitt einer größeren visuellen Umwelt. Es versteht sich im Werkzusammenhang, ist seriell und konzeptionell, performativ und affektiv. Faktoren wie Format, Dauer und Verbreitung sind Faktoren einer konkreten Erfahrung, die nicht dadurch objektiviert wird, dass der Deutungsprozess eine Korrekturschleife durchläuft. ((Der Frage des Formats widmet sich Thomas Puttfarken: Masstabsfragen. Über die Unterschiede zwischen grossen und kleinen Bildern, Univ. Diss. Hamburg 1971; vgl. ders.: The Discovery of Pictorial Composition. Theories of Visual Order in Painting 1400–1800, New Haven 2000.))

Auch für ‚Bilder‘ im weiteren Sinne sind die Veränderungen fundamentaler Natur: Das digitale Bild wird durch den Bildschirm zum Interface. Bildgebende Verfahren schieben sich in zunehmendem Maße vor die Welt, die sie selber vermessen. Virtuelle Bilder sind nicht nur zeitbasiert, sondern oftmals adaptiv und nur noch individuell erfahrbar. Das Handyfoto ist nicht mehr zwingend eine ästhetische Leistung, sondern auch flüchtige Notiz; das YouTube-Tutorial ist Sendung und Geschäftsmodell zugleich. Wesentliche gestalterische Mittel und Entscheidungen sind in mächtige digitale Programme ausgelagert, Produktion und Rezeption in sozialen Netzen kurzgeschlossen.

Dass sich Interpretationsmuster der Renaissance nicht direkt auf Bildcodes im Zeitalter der neuen Medien anwenden lassen, hat also weniger mit deren Alter zu tun als mit einem anders gefassten Begriff von Kunst, von Bild und Bildkompetenz. ((Philippe Wampfler: Generation „Social Media“. Wie digitale Kommunikation Leben, Beziehungen und Lernen Jugendlicher verändert, Göttingen 2014.)) Panofskys berühmtes Schema bedürfte also schon deshalb einer grundlegenden Diskussion, weil es zur Routine geworden ist, während sich sein historischer Kontext verändert hat. Hinzu kommt, dass auch die Ikonografie als solche sich weiterentwickelt hat, etwa als Materialikonografie. ((Wie bei Monika Wagner: Das Material der Kunst. Eine andere Geschichte der Moderne, 2. Aufl. der Neuausgabe 2013 (zuerst 2001).))

Ein alternativer Entwurf

Dass das Fach Kunstgeschichte im Zuge dieser methodischen Revisionen die Reichweite seines prominenten Vertreters aus dem Auge verliert, kann selbst zu einem Problem werden. Denn wenn 80 Jahre nach Panofskys Aufsatz und über ein Jahrhundert nach Wölfflins Grundbegriffen keine Deutungsschemata bekannt sind, die es im Bekanntheitsgrad annähernd mit ihnen aufnehmen können und sie tatsächlich obsolet machen, entsteht unweigerlich der Eindruck, dass methodisch alles beim Alten geblieben ist. Unterdessen wird immer sichtbarer, dass das „Stufenmodell“ als solches sowohl kunsthistorisch als auch bildtheoretisch oder medienwissenschaftlich zu viele Lücken aufweist.

Um ein aktualisiertes Modell zu entwickeln, bedürfte es daher auch einer Diskussion, die nicht auf das Fach Kunstgeschichte beschränkt bleibt. Vielmehr wäre es (insbesondere in Zeiten digitaler Kommunikation) sinnvoller, eine längerfristig angelegte interdisziplinäre Arbeit anzustoßen und diese auch institutionell, z.B. im Rahmen von Fach- und Verbandstagungen, weiterzuführen und zu streuen. Doch auch für diese braucht es einen Ausgangspunkt.

Es wird hier daher für den Auftakt und durchaus im Stile Erwin Panofskys eine synoptische Darstellung an das Ende der Darstellung gesetzt, die aber im Unterschied zum Vorläufer als netzartige oder verzweigte Struktur zu lesen ist und die alternative Programm- und Spielverläufe zulässt.

Matthias Bruhn: Entwurf für ein Schema zur Bestimmung von Bildern
Matthias Bruhn: Entwurf für ein Schema zur Bestimmung von Bildern.

Das hier gezeigte, zufällig gewählte Bildmotiv mit einer seltsamen Montage aus Schildkröte und Segel wäre in einem solchen Schema sowohl als Kupferstich, als Rundbild, als Emblem oder Buchillustration korrekt beschrieben. Aus jeder dieser – gleichwertigen – Einordnungen könnten weitere Differenzierungen folgen, die nicht so sehr zum „Verstehen“ des Gezeigten, sondern vor allem zur Verständigung über formale Elemente und Details beitragen sollen, wie eine Checkliste, die dabei behilflich ist, ein Bild in seinen unterschiedlichen Aspekten zu prüfen.

Die hier gezeigte Gliederung ist bottom-up entstanden, indem Aussagen zu den Eigenschaften oder Umständen eines Bildes, wie sie bei kunst- und bildwissenschaftlichen Beschreibungsübungen regelmäßig anfallen, zusammengetragen, systematisiert und unter Dachbegriffen gruppiert worden sind. Damit sollte der Annahme Rechnung getragen werden, dass jeder Gegenstand eine andere Herangehensweise erfordert. Wichtig war beispielsweise, auch die Reproduktions- und Entfremdungsstufen von Bildern oder ihre konkreten Erscheinungsorte einzubeziehen und damit die Frage, wo oder wie ein Bild überhaupt zu seinem Publikum kommt, welche Sinnverschiebungen sich daraus ergeben, welchen hermeneutischen Anteil die Technik und Machart oder der Preis eines Objektes haben usw.

Es gibt in der vorgeschlagenen Variante, von den formatbedingten Begrenzungen und Leserichtungen einer zweidimensionalen Übersicht abgesehen, keine Stufen oder Hierarchien. Sämtliche Gruppierungen, ihre Inhalte und Bezeichnungen sind offen und auf Erweiterung angelegt. Je nach Modell oder Methode sind andere oder weitere Gruppen denkbar. Überschneidungen sind möglich. Im Idealfall – und im Sinne Panofskys – könnte die Gliederung zeigen, dass die Ebene der ikonografischen Verknüpfung von Zeichen und Bedeutung nur eine von vielen „vor-ikonografischen“ Schichten ist und nur eine von vielen Stufen der „ikonologischen“ Interpretation.

Nicht Vollständigkeit, sondern Ausbaufähigkeit ist das Ziel des Entwurfs. Um aber tatsächlich einen brauchbaren Beitrag zur Interpretation visueller Formen zu leisten, müsste er nicht nur möglichst umfassend, detailliert oder präzise sein, sondern vor allem an möglichst vielen unterschiedlichen Beispielen und im interdisziplinären Austausch erprobt werden.

Editorial Peer Review
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Empfohlene Zitierweise: Matthias Bruhn: „Bilddeutung (lange) nach Erwin Panofsky“, in: Figurationen des Übergangs, Jg. 2022, S. 1–17. DOI: 10.25598/transitionen-2022-4 <https://transition.hypotheses.org/995>