Dissertationsvorhaben:
Konstellationen des Neuen: Eine soziologische Ästhetik
Erstbetreuer: Prof. Dr. Heinz Bude, Universität Kassel, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften
Zweitbetreuer: Univ. Prof. Dr. Werner Michler, Paris-Lodron-Universität Salzburg, Fachbereich Germanistik
Abstract
Die moderne Gesellschaftsformation wäre nicht denkbar ohne den ihr immanenten soziologisch inspirierten Diskurs darüber. Die Moderne – in ihren diversen Formationen und Konfigurationen – ist daher gekennzeichnet durch ein paradigmatisches Selbstreflexivwerden ihrer gelebten Praxen und übergreifenden Lebensformen. Aus dieser Perspektive ist die soziologische Denkweise (C.W. Mills) als historisch-lokaler Motor der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu betrachten, die gleichzeitig immer selbst Teil der Gesellschaft ist, die sie interpretiert.
Das Dissertationsprojekt nimmt diesen spezifischen Modus zum Ausgangspunkt einer allgemeinen Problematisierung von Weisen der Selbstinterpretation (Charles Taylor) und möchte hierfür eine transdisziplinäre Perspektive akzentuieren, denn die Soziologie ist “nur als eine unter konkurrierenden Selbstbeschreibungen der Gesellschaft” (Nassehi 2011: 29) zu betrachten. Gerade an der Schnittstelle zwischen Wissenschaften (Soziologie) und Künsten (Literatur) sollen neue theoretische und methodische Perspektiven auf die Konstitution, Modulation und Transformation von spätmodernen Subjektivierungs- und Lebensformen dargelegt werden. Der methodologische Fokus orientiert sich dabei an poststrukturalistischen Theorieströmungen und diskutiert die angedachten Fallstudien gegenwarts- und materialbezogen, das heißt in ihren jeweiligen historisch-lokalen Figurationen.
Inwiefern korrespondieren beispielsweise soziologische mit literarischen Wissenskulturen an der gerade aktuell zu konstatierenden autofiktionalen Wende? In welchem Zusammenhang stehen dabei soziologische Gegenwartsdiagnosen mit autosoziobiografischen Formexperimenten, wie sie zum Beispiel Didier Eribon, Anni Ernaux, Christian Baron, Steffen Mau, Sandra Gugic, Deniz Ohde betreiben?
Auch wenn die aktuelle Forschungsliteratur sich diesem virulenten Thema gegenwärtiger Selbstverständigungsweisen annimmt, wird den Übergangsformen bzw. ästhetischen Fortschreibungen zwischen Theater und Soziologie wenig Beachtung geschenkt. Dieses Forschungsdesiderat zu problematisieren und seine generelle Relevanz für die Konstitution von Sozialität herauszuarbeiten, ist der allgemeine Anspruch des Dissertationsvorhabens. Hierzu wird eine historisch-systematische Kontextualisierung der Wechselbeziehung zwischen Ästhetik und Gesellschaft notwendig sein, um darauf aufbauend den Wissens- und Erfahrungstransfer zwischen theatraler und soziologischer Praxis im Kontext gesellschaftlicher Selbstinterpretation herauszuarbeiten. Zudem wird eine methodische Verquickung zwischen praxeologischer Produktionsanalyse (Gabriele Klein), wissenssoziologischer Diskursanalyse (Reiner Keller) und theaterwissenschaftlicher Inszenierungs- und Aufführungsanalyse (Weiler/Roselt) vorgestellt, die das Zusammendenken von theatraler und soziologischer Gegenwartsdeutung als neue Heuristik auffasst, um gesellschaftliche und subjektkonstitutive Weltbeziehungen verständlich zu machen. Daraus werden sich zugleich, so die These, neue methodologische Perspektiven, neue Formen der soziologischen Theoriebildung ableiten lassen, die gerade dem Umstand Rechnung tragen, dass diese selbst immer eine Form von Praxis bildet, eingebunden ist in eine Lebensform bzw. durch diese oder in dieser hervorgeht. Sina Farzin spricht in diesem Zusammenhang von dem überaus erkenntnisversprechenden Konzept der “Gründungsszenen”, das auch in diesem Rahmen von Relevanz ist. Denn es sollte plausibel gemacht werden, dass soziologische Wissensansprüche immer als eine “Praxis des Lebens“ (Schelsky 1982: 41) zu begreifen sind und der Umweg über die soziologisch-theatrale Konstellation eine Möglichkeit offenlegt, diesen Befund auch empirisch zu sättigen.
Neben den bereits angeführten Fallstudien sollen die theatral-ästhetischen Experimentalanordnungen von Milo Rau und Peter Handke paradigmatische Einsichten gewähren in eine ästhetisch akzentuierte Praxistheorie, die das Werden von Lebensformen als differentielle Wiederholungspraxis auffasst, jenseits von disziplinären Grenzziehungen. Eine daraus hervorgehende Soziologie, könnte sich zum Beispiel Inspirationen holen bei Musils Idee eines ‘Möglichkeitssinns’ oder Heideggers ‘Möglichkeitsmenschen’ und daraus schließen, dass die “begrifflichen Verwachsungen” (Simmel) zwischen Soziologie, Literatur und Philosophie vielmehr Praxisformen darstellen, deren Applikation es wohl darum gehen könnte, “sichselbstdisziplinierende Beobachtungsmöglichkeiten freizusetzen“ (Luhmann 1993: 259) oder zumindest Alternativen in der Selbstproblematisierung des gesellschaftlichen Menschen aufzuzeigen.
Short biography
Raffael Hiden studied sociology and history at the KF University of Graz, where he also worked at the cultural department of the Österreichische Hochschülerschaft. His master’s thesis in sociology deals with a methodological concept about the potentials and possibilities of sociological-historical research with regard to the Tarde-Durkheim debate. Furthermore, he had the opportunity to work as a student assistant, carrying out research and holding seminars. In addition, he already made the initial connections between science and art in his work in non- academic fields (theatre, publishing). Since 2019, he has been one of the co-publishers of the literary Magazine mischen. His fields of research include aesthetical theory, sociological theory, modern theatre