Partizipative Öffentlichkeit(en)


Auf welchen Begriff von Öffentlichkeit(en) können wir uns konkret – theoretisch wie auch in der Projektpraxis - beziehen? Diese Frage stellte sich uns im Projekt zu Beginn sowie fortlaufend. Künstlerische und kulturelle Interventionen stehen oftmals unausgesprochen für Interventionen im öffentlichen Raum (vgl. von Borries et al. 2014), doch erscheint uns dieser Begriff von Öffentlichkeit als Einengung für den weitgehend ergebnisoffenen Prozess mit den Jugendlichen. Dennoch sollte der öffentliche Raum im weiteren Projektverlauf eine zentrale Rolle spielen. Denn in der Zusammenarbeit mit den Jugendlichen wurde deutlich, dass in der heutigen neoliberal geprägten Gesellschaft Jugendliche im öffentlichen Raum weitgehend (un-)sichtbar sind und die Bedeutung einer Aneignung und (Neu-)Besetzung des öffentlichen Raums als Teil der Ausverhandlung gesellschaftlicher Mitgestaltung und kultureller Teilhabe an Relevanz gewinnt.

 

Um der Frage der Herstellung partizipativer Öffentlichkeiten an der Schnittstelle von künstlerischen und kulturellen Interventionen näher zu kommen, bauen wir einerseits auf Chantal Mouffes (2014) Überlegungen zu kritischen künstlerischen und kulturellen Praktiken im Kontext agonistischer öffentlicher Räume sowie andererseits auf das von Elisabeth Klaus (2001) entwickelte Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit auf und verbinden letzteres mit dem Konzept des Zwischenraums.

 

Chantal Mouffes (2014) Verständnis von öffentlichen Räumen als agonistische Schauplätze lenkt den Fokus auf die konfligierenden Sichtweisen, die hier aufeinandertreffen können. Im Gegensatz zu Jürgen Habermas sieht sie das Ziel einer radikalen demokratischen Politik nicht darin, diese zu versöhnen und einen Konsens anzustreben (der ohne Ausschlüsse zu produzieren, nie erreicht werden kann), sondern sie betont vielmehr das Potenzial des agonistischen Ansatzes, in dem auch jene Akteur_innen/Stimmen Gehör erhalten, die sonst im Rahmen des hegemonialen Diskurses nicht gehört bzw. gesehen werden.  Durch einen agonistischen Ansatz sollen auch die Stimmen der Peripherie Gehör erhalten; es geht darum, widerstreitende Positionen öffentlich sichtbar bzw. hörbar zu machen. Künstlerische und kulturelle Praktiken als agonistische Interventionen im öffentlichen Raum sind hierfür ein effektives Medium (Mouffe 2014, S.142 f.). Mouffe betont in diesem Kontext auch die zentrale Rolle und Bedeutung der Zivilgesellschaft in der (Re-)Produktion hegemonialer Strukturen, wobei die Bedeutung des Handelns und Sprechens von uns allen in den Fokus gerückt wird, sowie das Potential diese als natürlich erscheinende, jedoch konstruierte hegemoniale Perspektive zu ent-naturalisieren, ihre „Gemachtheit“ aufzuzeigen, und in Folge zu ändern.

 

Hier schließen wir mit dem Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit (Klaus 2001) an. In diesem Modell, auf das wir uns in dem Projekt auf einer theoretischen Ebene beziehen, definiert Elisabeth Klaus Öffentlichkeit als gesellschaftlichen Aushandlungsraum, der sich aus alltäglichen Kommunikationsprozessen (Mikro-Ebene), einer organisierten interessensvertretenden Ebene (Meso-Ebene) sowie einer komplexen, zumeist massenmedialen Ebene (Makro-Ebene) konstituiert. Ausgangspunkt des Drei-Ebenen-Modells ist ein weiter Politikbegriff, der Alltagspraktiken miteinschließt und den Blick auf die Vielfalt von Öffentlichkeiten und die kommunikativen Prozesse zur Herstellung von Öffentlichkeit wirft.

 

Öffentlichkeit wird hierbei als Selbstverständigungsprozess der Gesellschaft verstanden, in dem die Begriffe Privatheit und Öffentlichkeit nicht als sich gegenseitig ausschließend verstanden werden, sondern als einander bedingende gesellschaftliche Sphären. So wird Öffentlichkeit auch im Privaten hergestellt und die Bedeutung der Herstellung innerhalb dieses Mikrokosmos betont. Die drei Ebenen von Öffentlichkeit nach Klaus konstituieren sich aus einfachen, mittleren und komplexen (Teil-)Öffentlichkeiten. Sie versteht einfache Öffentlichkeiten, als jene, die im Rahmen von informellen und alltäglichen Gesprächsformen hergestellt werden, und in denen sich die Gesellschaft darüber verständigt, welche Verhaltensweisen ihrer Meinung nach akzeptabel oder nicht akzeptabel sind.

Die mittlere Ebene wird durch eine Organisationsstruktur, mehr oder weniger festgelegte Regeln und Rollendifferenzierungen charakterisiert – wie beispielsweise durch Versammlungen im Bereich des Vereinswesens oder allgemeiner Formen der kollektiven Selbstorganisation. Jeffrey Wimmer bezeichnet diese Ebene als „partizipatorische Öffentlichkeit“, die zum Aufbau von Gegenmachtpositionen v.a. im Bereich der Zivilgesellschaft beiträgt (2007, S. 240). Die komplexe Ebene zeichnet sich durch eine relativ stabile Struktur aus, hierzu zählt Klaus die Massenmedien sowie die Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen, Parteien, großen Unternehmen etc.

Ein Wechsel der Rollen von Kommunikator_innen und Publikum ist auf dieser Ebene wesentlich schwerer als auf der einfachen Ebene, die sich durch eine Gleichberechtigung der am Kommunikationsprozess Beteiligten auszeichnet und auf der die Rollen oszillieren, auch auf der mittleren Ebene ist die Beziehung zwischen Publikum und Kommunikator_innen zwar formalisiert aber relativ durchlässig (vgl. Klaus 2001, S. 21-24; Aqra/Huber 2014).  Lebensweltliche Erfahrungen müssen die mittlere Ebene durchlaufen und sich dort vernetzen, um politische Wirkung zu entfalten. So können Gegenöffentlichkeiten entstehen, die der komplexen Öffentlichkeitsebene alternative Deutungsmuster entgegensetzen (Klaus 2013). Auf der mittleren Ebene kann also ein kollektiver Kommunikations- und Diskursraum gebildet werden und soziale und gesellschaftliche Themen können gemeinsam verhandelt werden.

 

Wir haben uns nun die grundsätzliche Frage gestellt: Wie lassen sich die Erfahrungs-, Lern-, und Aneignungsprozesse, die in diesem Projekt an den Schnittstellen von Bildung – Kunst - Forschung stattgefunden haben, im Kontext des Drei-Ebenen-Modells von Öffentlichkeit denken (s. auch Zobl 2017)? Im Projektkontext hat sich das Modell als produktiv erwiesen, um die Reflexions-, Ausverhandlungs- und Aneignungsprozesse, aber auch die Politisierungsprozesse, die stattgefunden haben, fassen zu können. Im Übergang von der ersten zur zweiten Ebene finden politisierende Prozesse von Empowerment, Partizipation, Teilhabe und Konflikt statt.

Die Prozesse der Politisierung und des Empowerment betreffen v.a. die kritische Hinterfragung und Verhandlung gesellschaftlicher Normen und Werte. bell hooks hat den Begriff „Empowerment“ sehr treffend so beschrieben: „Dieser Prozess setzt ein, wenn wir beginnen zu verstehen, auf welche Weise Herrschaftsstrukturen das eigene Leben bestimmen, wenn wir ein kritisches Bewusstsein und die Fähigkeit zum kritischen Denken entwickeln, wenn wir neue alternative Lebensgewohnheiten ersinnen und aufgrund dieses marginalen Raums von Differenz in uns Widerstand leisten.“ (hooks 1996, zitiert in Johnston-Arthur/Görg o.J.).

 

Das Modell kann den Blick auf diese Prozesse und damit auf die Möglichkeiten der Eröffnung, aber auch auf Einschränkungen und Konflikte von kollaborativen und partizipativen Diskurs- und Handlungsräumen schärfen (vgl. Aqra/Huber/Smodics/Zobl 2016). In Bezug auf partizipative Öffentlichkeiten unterscheiden wir (wie Silke Feldhoff 2014) zwischen den Begrifflichkeiten „partizipatorisch“ im Sinne der Ermöglichung von Teilhabe und „partizipativ“ im Sinne der aktiven Umsetzung von Teilhabe. Unser Verständnis von Partizipation als kritische Praxis im Handlungsfeld von Vermittlungs- und Bildungskontexten orientiert sich dabei an Ansätzen, die die Reflexion der Machtbeziehungen im Projektkontext und in der Vermittlungssituation selbst als Ausgangspunkt zur weiteren Reflexion von Machtverhältnissen in der Gesellschaft nimmt.

 

Im Rahmen des Projektes war es uns wichtig, den Schüler_innen zu vermitteln, dass auch sogenannte „Alltagsgeschichten“ von Bedeutung sind und dass bei der Thematisierung und Kontextualisierung dieser Politisierung und Selbstermächtigung beginnen (können). Nicht nur auf der mittleren und der komplexen Ebene kann und wird Öffentlichkeit hergestellt, sondern auch in der alltäglichen Kommunikation mit Mitschüler_innen, Freund_innen, Familienmitgliedern etc. Im Zuge dieser alltäglichen, scheinbar belang- und bedeutungslosen Kommunikationsvorgänge wird verhandelt, wie wir uns Gesellschaft vorstellen und Identität entwerfen. Klaus fasst diesen Vorgang mit folgenden Worten zusammen: „Alltagsgeschichten haben einen Subtext, einen Überschuss an Bedeutung, der gesellschaftliche Normen und Werte mit festlegt und subkulturelle Identitätsbildung vermittelt.“ (Klaus 2001, S. 19)

 

Durch die aktive Aneignung und das eigene Aktiv-Werden im Zuge der Entwicklung und Umsetzung der künstlerischen bzw. kulturellen Interventionen können (oftmals unbewusst) tradierte Machtverhältnisse dekonstruiert werden. In diesem Zwischenraum zwischen Alltagserfahrung (Mikro-Ebene) und organisierter Öffentlichkeit (Meso-Ebene), kann es zu einer Transformation durch das aktive Eingreifen der Jugendlichen kommen. Sie erfahren erweiterte, nicht-alltägliche Handlungsräume, nehmen ihre eigene Handlungsfähigkeit wahr und können mit künstlerische und kulturelle Strategien der gesellschaftlichen Mitgestaltung und kulturellen Teilhabe experimentieren. Indem sie ihnen wichtige Themen in der Öffentlichkeit verhandeln, erproben sie den Übergang von der einfachen zur mittleren Ebene von Öffentlichkeit.

 

Zusätzlich entstanden im Projektsetting neue soziale Beziehungen und Begegnungen zwischen verschiedenen Akteur_innen statt, die ohne das Projekt in dieser Konstellation nicht zustande gekommen wären – Schüler_innen, Künstler_innen, Kunst-/Kulturvermittler_innen sowie Wissenschaftler_innen arbeiteten (möglichst) kollaborativ zusammen. Durch die gemeinsame Entwicklung und Umsetzung von künstlerischen und kulturellen Interventionen wurden schließlich öffentliche Räume von den Jugendlichen temporär angeeignet und als Gestaltungsräume umgedeutet. Auf diese Weise können gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen auf mikropolitischer Ebene entgegengewirkt werden (vgl. <rotor> et al. (Hg.) 2012) und – zumindest temporäre – partizipative Öffentlichkeiten hergestellt werden.

 

von Elke Zobl und Laila Huber

 


Literatur:

Aqra, Veronika / Huber, Laila (2014): Prozesse des Re-Thinking im Forschungsprozess und als Forschungsaufgabe (unveröffentlichtes Manuskript).

 

Aqra, Veronika/ Huber, Laila /Smodics, Elke /Zobl, Elke (2016): Intervenieren – Forschen – Vermitteln. Künstlerisch-edukative Projekte in der Kooperation Universität – Schule.
Reflexionen zum Projekt „Making Art ‑ Taking Part!“, In: p/art/icipate – Kultur aktiv gestalten # 07, http://www.p-art-icipate.net/cms/intervenieren-forschen-vermitteln/ (10.10.2016)

 

Feldhoff, Silke (2014): „Formen partizipatorischer Praxis in der Kunst. Begriffe, Entwicklungen, Typen. Eine Standortbestimmung“, eine Zusammenfassung meiner Dissertation, veröffentlicht in: Frank Bölter, Katalog Columbus Art Foundation Leipzig 2009 (columbus books| Revolver Publishing), S. 157-173.

 

hooks, bell (1996): Yearning – Sehnsucht und Widerstand. Kultur, Ethnie, Geschlecht. Berlin.

 

Johnston Arthur, Araba Evelyn /Görg, Andreas (o.J.): empowerment, in: Online-Glossar des Thematischen Netzwerks Antirassismus, http://no-racism.net/antirassismus/glossar/empowerment.htm (10.9.2016)

 

 Klaus, Elisabeth (2001) Das Öffentliche im Privaten - Das Private im Öffentlichen. Ein kommunikationstheoretischer Ansatz. In: Herrmann, Friederike/Lünenborg, Margret (Hrsg.): Tabubruch als Programm. Privatheit und Intimität in den Medien. Leske + Budrich: Chronos Verlag, S.15-35.

 

Mouffe, Chantal (2014): Agonistik. Die Welt politisch denken. 1. Auf. Berlin: Suhrkamp.

 

< rotor > (Hg.) (2012): FREIZEICHEN. Künstlerische Interventionen im Kontext jugendlicher Lebenswelten, Graz: Archiv der Jugendkulturen Verlag KG.

 

von Borries, Friedrich / Hiller, Christian / Wegner, Friederike / Wenzel, Anna-Lena (2014): Urbane Interventionen Hamburg, Berlin: Merve.Wimmer, Jeffrey (2007): (Gegen-)Öffentlichkeit in der Mediengesellschaft. Analyse eines medialen Spannungsverhältnisses, SV Springer Verlag.

 

Zobl, Elke: „Künstlerische Interventionen und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: Das Drei-Ebenen-Modell von Öffentlichkeit in künstlerisch-edukativen Kontexten.“ In: Drüeke, Ricarda/Klaus, Elisabeth: „Öffentlichkeiten und gesellschaftliche Aushandlungsprozesse. Theoretische Perspektiven und empirische Befunde“. Bielefeld: transkript, im Erscheinen (2017).