Klassisches Gitarrenstudium in Stuttgart mit künstlerischem und pädagogischem Abschluss. Lehre, Konzerttätigkeit, Kompositionen, Preise bei Gitarrenwettbewerben in Spanien, Indien, Korea und den USA.
Studium der Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Leipzig und Halle (Saale). Wissenschaftlicher Mitarbeiter 2018 bis 2020 am Musikinstrumentenmuseum der Universität Leipzig und 2020 bis 2024 im Forschungsprojekt „Historisches Embodiment“ an der Hochschule der Künste Bern.
www.joergholzmann.de
Classical guitar studies in Stuttgart with artistic and pedagogical degree. Teaching, concert activities, compositions, prizes in guitar competitions in Spain, India, Korea and the USA.
Studies in musicology, literature and art history in Leipzig and Halle (Saale). Research assistant at the Musical Instrument Museum at the University of Leipzig from 2018 to 2020 and in the research project “Historical Embodiment” at the Bern University of the Arts from 2020 to 2024.
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Titel des Dissertationsvorhabens:
Frühe (Ton-)Filmdokumente als Quellen für die musikalische Interpretationspraxis des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts
Early (sound)film documents as sources for the musical interpretation practice of the late 19th and early 20th centuries
Betreuung:
Erstbetreuung: Prof. Dr. Kai Köpp, Universität Mozarteum Salzburg
Zweitbetreuung: Prof. Dr. Nils Grosch, Paris-Lodron-Universität Salzburg
Abstract:
Bei der Frage, wie sich Erkenntnisse über historische Interpretationsentscheidungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewinnen lassen, die nicht schriftlich fixiert oder tradiert wurden und auditive Analysemöglichkeiten (von Ton- und Toninformationsträgern) übersteigen, landet man früher oder später unweigerlich bei Filmdokumenten und ihrem vielschichtigen Informationsgehalt. Durch die zusätzliche, bewegt-visuelle Ebene können aus reinen Tondokumenten gewonnene Erkenntnisse bestätigt, erweitert oder gar revidiert werden. Aspekte wie die Ausführung spezifischer Bewegungsabläufe, Körperhaltung, Mimik und Gestik, (Selbst-)Inszenierung sowie verwendetes Instrumentarium gewähren Einblicke, die über rein spiel- oder gesangstechnische Erkenntnisse hinausgehen und auch für die Musiksoziologie, musikbezogene Gender Studies oder die Instrumentenforschung von unschätzbarem Wert sind. Filme mit mehreren Musiker*innen erlauben zudem eine genauere Untersuchung von Interaktionen und ihrer Ausprägung, wie etwa häufigem Blickkontakt oder weitgehender Autonomie, Gleichberechtigung oder Hierarchie.
Da der Tonfilm seit mittlerweile rund 100 Jahren zum festen Repertoire der für die Musikwissenschaft ausschlaggebenden Medien gehört, verwundert es doch, dass bisher mit wenigen Ausnahmen keine nennenswerten Versuche unternommen wurden, ihn im Hinblick auf Fragestellungen der Interpretationsforschung systematisch zu untersuchen und methodisch aufzubereiten. Das hier vorgestellte Dissertationsvorhaben nimmt sich dieses Forschungsdesiderats an und soll somit zur Etablierung des Tonfilms als ernstzunehmende Quellengattung für die Interpretationsforschung beitragen.
Im Zentrum der hier dargelegten Untersuchungen steht der filmisch eingefangene Akt des Musizierens und so ist zu beachten, dass sich das Forschungsinteresse ausdrücklich nicht auf extradiegetische Musik richtet, sondern ausschließlich die bildliche (und klangliche) Wiedergabe des Vorgangs einer musikalischen Darbietung in den Fokus nimmt. Vor allem konzentrieren sich die Untersuchungen auf die Aufführungspraxis ‚westlicher Kunstmusik‘, wie sie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gepflegt wurde und sich von der heute üblichen unterscheidet. Die Auswahl der Filme muss sich also auf einen Zeitraum erstrecken, in welchem diese Art des Musizierens die geläufige war oder sich auf Musiker*innen richten, die in dieser Tradition ausgebildet wurden und das in ihrem Spiel auch später noch zum Ausdruck brachten. Hierfür soll ein möglichst repräsentativer Quellenkorpus an frühen Tonfilmdokumenten anhand eines detaillierten Kriterienkataloges ausgewertet werden, um anschließend im Rahmen von Reenactments sowohl die Auswirkungen der umgesetzten Beobachtungen auf Selbst- und Fremdwahrnehmung zu diskutieren als auch eine authentische Reproduktion dieser Musizierpraxis im Vortrag heutiger Musiker*innen zu ermöglichen.
Der Quellenkorpus, auf den in der hier vorgestellten Arbeit zugegriffen wird, ist ein äußerst heterogener und sich ständig in Veränderung befindlicher. So müssen aussagekräftige Beiträge verschiedenster Formate aus der untersuchten Zeit zunächst ausfindig gemacht, gesammelt, gesichtet und kategorisiert werden. Der Fokus auf eine möglichst naturnahe Wiedergabe des Musiziervorgangs führt dabei aber nicht zwangsläufig zu einer Eingrenzung auf reine Dokumentarfilme. Auch Produktionen weiterer Genres können, teils leicht erkennbar, teils ‚versteckt‘, Szenen beinhalten, die für das Forschungsvorhaben relevant sind.
Durch die systematische Beschäftigung mit dem filmisch festgehaltenen Vorgang des Musikmachens kann auch die Musikwissenschaft einen Beitrag zur Debatte rund um die Definition des Genres ‚Musikfilm‘ leisten. Als Ergänzung zu den bisher vorliegenden, eher kulturwissenschaftlichen Arbeiten widmet sich das hier präsentierte Forschungsvorhaben somit erstmals dem ‚Elefanten im Raum‘ selbst, nämlich dem von der Kamera eingefangenen Akt der Interpretation von Musik.
When it comes to the question of how to gain insights into historical interpretative decisions of the late 19th and early 20th centuries that were not written down or handed down and that exceed auditory analysis possibilities, sooner or later one inevitably ends up with film documents and their multi-layered information content. The additional, moving-visual level can confirm, expand or even revise insights gained from pure sound documents. Aspects such as the execution of specific movement sequences, posture, facial expressions and gestures, (self-)staging and the instruments used provide insights that go beyond purely technical playing or singing knowledge and are also invaluable for the sociology of music, music-related gender studies or organological research. Films with several musicians also allow a closer examination of interactions and their characteristics, such as frequent eye contact or extensive autonomy, equality or hierarchy.
Since sound films have been part of the repertoire of media that are decisive for musicology for around 100 years now, it is surprising that, with a few exceptions, no significant attempts have been made to systematically examine and methodically prepare them with regard to questions of interpretation research. The dissertation project presented here addresses this desideratum and is thus intended to contribute to the establishment of the sound film as a serious source genre for interpretation research.
At the center of the investigations presented here is the act of music-making captured on film, and so it should be noted that the research interest is explicitly not directed at extradiegetic music, but focuses exclusively on the visual (and aural) reproduction of the process of a musical performance. Above all, the research concentrates on the performance tradition of ‚Western art music‘ as it was practiced at the end of the 19th and beginning of the 20th century and which differs from that which is customary today. The selection of films must therefore cover a period in which this type of music-making was common practice or focus on musicians who were trained in this tradition and continued to express this in their playing later on.
For this purpose, a source corpus of early sound film documents that is as representative as possible is to be evaluated on the basis of a detailed catalog of criteria in order to subsequently discuss the effects of the implemented observations on self-perception and the perception of others in the context of reenactments, as well as to enable an authentic reproduction of this music-making practice in the performance of today’s musicians.
The corpus of sources used in the work presented here is extremely heterogeneous and constantly changing. Meaningful contributions in a wide variety of formats from the period under investigation must first be located, collected, viewed and categorized. However, the focus on a reproduction of the music-making process that is as close to nature as possible does not necessarily lead to a restriction to pure documentary films. Productions of other genres may also contain scenes that are relevant to the research project, some easily recognizable, others ‚hidden‘.
By systematically examining the process of music-making captured on film, musicology can also contribute to the debate surrounding the definition of the genre ‚music film‘. As a supplement to the existing, more cultural-scientific works, the research project presented here is thus dedicated for the first time to the ‚elephant in the room‘ itself, namely the act of interpreting music captured by the camera.