Anja Bachl

Trauer

am 22.6.2020 auf Instagram, https://www.instagram.com/p/CN2twN3l7Mm/

Ich kann Integralrechnung. Ich weiß, was eine Tautologie ist. Und was eine Transsubstantiation. Ich hab ein Rinderherz seziert und mir dadaistische Gedichte ausgedacht. Ich kann die lateinische Inschrift in der Sauna übersetzen und ich kann dir sagen, wen Zeus aller vergewaltigt hat. Ach sorry, verführt. Ich weiß, wann Monteverdi gelebt und komponiert und wann er das Zeitliche gesegnet hat. Wir können den Sonnengruß. Aber wir können nicht trauern. Wir können nicht trauern und wir können Trauer keinen Platz geben. Wir haben es nie gelernt, hatten keinen Raum für learning by doing und jetzt sind wir Nackerbatzeln. Harmoniesüchtige Trainierte, deren Königsdisziplin es ist, Ablenkung und Verdrängung hochzustilisieren. Wir haben zehn Jahre lange studiert und sogar uns Geschulten fällt nichts anderes ein, als ein hüllenhaftes „das wird dich stärker machen“. Wow. Wonach ich mich sehne? Nach einem rohen Raum, einem gedachten. In dem der Wind so laut weht, dass der Regen in deine Nasenlöcher hineinkriecht. In dem die Sonne deine Haut so nach Sonnenhaut riechen lässt und alles ganz friedlich ist. Einem Raum, den man immer und überall öffnen kann, der ein Paralleltier ist, das uns begleitet. Ich will weinen können. Und das länger als einen Tag. Ohne, dass wir an Resilienz appellieren, an das Leben muss weiter gehen oder uns in Hilflosigkeit verlieren. Wir könnten mit Dasein beginnen. Mit Präsenz. Mit das Leben als Ganzes umarmen. Wir könnten Umarmungen als Coping Mechanism weglassen und lernen, hinzusehen, in Augen zu sehen und lernen, was Zeit für ein essenzieller Faktor ist. Wir können Integralrechnung, aber scheitern daran eins und eins zusammenzuzählen und zu kapieren, wir sind bis in die feinsten Fasern optimierungsgetrieben. Aber. Who‘s in? Können wir etwas aussortieren von dem ganzen unnützen Zeug und Platz machen für Dinge, die wir erst lernen müssen. Dass Traurigkeit und Trauer und Weinen und Nichtlachen keine Nacktschnecken sind in unserem Garten. Sondern Rosen. Und wenn wir blühen wollen, dann braucht es auch den Wolkenbruch. Und den Nieselregen. Und den Schnürlregen. Lasst uns klug sein und keine Klugscheißer*innen.

 

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